
 
		Ein  befreundeter  Botaniker  nannte  deshalb  die  jetzt  geltende,  von  
 jenem irrtümlichen Gesichtspunkte beherrschte Pflanzenphysiologie  
 die  „Marmottenbotanik“ .  Um  boshaften  Mißdeutungen  vorzubeugen, 
   will  ich  hinzufügen,  daß  derselbe  damit  nicht  etwa  gewisse  
 Professoren  der  Botanik mit Murmeltieren  vergleichen  wollte,  sondern  
 die  von  ihnen  als  Paradigmen  betrachteten  nordischen  Pflanzen. 
 Um den richtigen Standpunkt zur naturgemäßen Beurteilung dieser  
 wichtigen  Verhältnisse  zu  gewinnen,  müssen  wir  einen  Seitenblick  
 auf  die  Ges ch ich te   der  Pflanzenwelt  werfen  und  auf  die  
 G eo lo g ie ,  die  uns  in  den  Versteinerungen  die  handgreiflichen  
 „Denkmünzen  der  Schöpfung“  in  die  Hand  gibt.  Diese  lehrt  uns  
 nun,  daß  der  Wechsel  der  Jahreszeiten,  den  wir  von  Kindheit  an  
 in  Europa  als  Norm  betrachten,  und  die  Sonderung  der  klimatischen  
 Zonen  auf  unserem  Erdball,  verhältnismäßig  neue  Ereignisse  
 in  dessen  Geschichte  darstellen;  sie  haben  sich  erst  im  Laufe  
 der Tertiärzeit  entwickelt,  im  Laufe  jener  känozoischen Geschichtsperioden, 
   welche  nur  ungefähr  drei  Prozent  von  der  ganzen  Länge  
 der  organischen  Erdgeschichte  bedeuten.  In  der  vorhergehenden  
 Sekundärzeit,  in  der  Trias,  Jura  und  Kreide  abgelagert  wurden,  
 und  ebenso  in  der  noch  älteren  und  längeren  Primärzeit,  macht  
 sich  der  Zonenunterschied  noch  nicht  geltend;  ein  gleichmäßig  
 warmes  und  feuchtes Klima,  gleich  unserem  heutigen  äquatorialen,  
 herrschte  auf  der  ganzen  Erdkugel  vom  Äquator  bis  zu  den  Polen.  
 Das  ergibt  sich  aus  der  großen  Zahl  von  versteinerten  Palmen  und  
 anderen  Tropenpflanzen,  welche  in  der  mesozoischen  (sekundären)  
 und  teilweise  noch  in  den  älteren  tertiären Ablagerungen von Grönland  
 und  anderen  arktischen,  heute mit  Eis  bedeckten Gebieten  gefunden  
 worden  sind. 
 Für die ganze Länge der  „o rg an isch en  E rd g e s ch ich te “ ,  d.h.  
 jenes  ungeheueren  Zeitraumes,  während  dessen  sich  organisches  
 Leben  auf  unserem  Erdball  entwickelt  hat,  werden  von  neueren  
 Geologen hundert Millionen Jahre  als Minimum  angenommen.  (Andere  
 schätzen  denselben  fünf-  bis  vierzehnmal  so  lang!)  Davon  
 würden  also  nur  drei  Millionen  auf  die  Tertiärzeit  kommen,  d.h.  
 dreitausend  Jahrlausende!1)  Jedenfalls  wäre  dieser  Zeitraum lange  
 genug  für  die  langsame  Sonderung  der  heutigen  klimatischen  Zonen, 
   die  durch  die  fortschreitende  Abkühlung  des  Erdballs  an  beiden  
 Polen  bedingt wurde.  Später,  im  Beginn  der  jüngsten  Periode, 
 !)  Übei-  die  moderne  Berechnung  und  Zeiträume  vergleiche  die  Bemerkungen überS cdhiäet zu„nKg. odsimeseorl olagnisgcenh eg ePoelorgsispcehken  
 tive“  in  meinem  Buche  über  „Die Welträtsel“.  (1899.  Kapitell,  Anm. 1.) 
 der  Q u a r tä r ze it,  ging  diese  Abkühlung  bekanntlich  noch  viel  
 weiter  und  führte  die  große  „Eiszeit“  herbei.  Schon  vor  Beginn  
 der  letzteren,  gegen  Ende  der  Tertiärzeit,  hatte  das  bedeutendste  
 historische  Ereignis  stattgefunden,  die  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  
 aus  Menschenaffen  der  alten  Welt. 
 Die  hohe  Wichtigkeit  der  E is ze it  für  die  stärkere  Ausbildung  
 der  klimatischen  Zonenunterschiede  und  Tür  die  großen,  damit  
 verknüpften  Wanderungen  der  Tier-  und  Pflanzenarten  ist  jetzt  
 allgemein  anerkannt,  ebenso  der  maßgebende  Einfluß,  den  dieselben  
 auf  ihre  heutige  geographische  Verbreitung  gehabt  haben.  
 Dabei  wird  aber  häufig  vergessen,  daß  die  tiefgreifenden,  damit  
 verknüpften  Veränderungen  in  der  Organisation  Und  Lebensweise  
 der  Tiere  und  Pflanzen  erst  sehr  spät  entstanden  sind.  Der  lange  
 Winterschlaf  unserer  nordischen  Pflanzen  und  Tiere,  die  lange  
 Unterbrechung  oder  doch  Verlangsamung  der  wichtigsten  Funktionen, 
   die  Beschränkung  der  Fortpflanzung  auf  eine  bestimmte  
 günstige  Periode/-^  das  alles  sind  späte  Anpassungen  an  die  
 allmähliche  Sonderung  der  Klimazonen,  sekundäre  Abweichungen  
 von  den  ursprünglichen  Verhältnissen,  wie  wir  sie  noch  heute  in  
 der  Äquatorialzone  antreffen. 
 Mit  Recht  sagt  Dr.  Treub  in  seiner  Festrede:  „Die  a llg e meine  
 B o tan ik   unserer  Hand-  und  Lehrbücher  ist  zum  größten  
 Teile  nur  diejenige  der  g em äß igten   Zonen,  aber  nicht  die  der  
 Tropen.“  Und  doch  zeigen  diese  letzteren  die  pr imären ,  jene  
 ersteren  die neuerlich davon  abgeleiteten sekundären  Verhältnisse.  
 Die  zahlreichen,  daraus  entstandenen  Irrtümer  und  schiefen  Auffassungen  
 werden  erst  mit  Erfolg  berichtigt  werden,  wenn  eine  
 größere  Zahl  von  Botanikern  selbst  nach  Buitenzorg  kommt  und  
 sich  an Ort. und  Stelle mit  eigenen Augen  von jener Wahrheit  überzeugt. 
 Leichter  einzusehen  und  allgemeiner  anerkannt  als  diese  Bedeutung  
 der  Tropenbotanik  für  die  P h y s io lo g ie   ist  diejenige  für  
 die  Bionömie  oder  „Ökologie“ .  Wir  verstehen  darunter  jenen  
 wichtigen  Zweig  der  Biologie,  welcher  die  Beziehungen  der  
 Pflanzen  und  Tiere  zur  Außenwelt  betrifft,  zu  ihrem Wohnort,  zu  
 den  Organismen,  mit  denen  sie  Zusammenleben,  zu  ihren  Freunden  
 und  Feinden,  ihren  Symbionten  und  Parasiten.  In  Deutschland  
 wird  diese  Bionomie  noch  häufig  als  B io lo g ie   (im  engeren Sinne)  
 bezeichnet,  obgleich  man  diesen  umfassendsten  Begriff  nur  in  
 weitestem  Sinne  gebrauchen  sollte,  für  die  G e sam tw is sen sch a ft  
 vom  organischen  Leben:  Anatomie  und  Physiologie,  Bionomie  
 und  Chorologie,  Ontogenie  und  Phylogenie  -—  lauter  einzelne Wis-  
 H aeokel,  Insulinde.  3. Aufl.  -