
 
		Bord  eines  großen  Dampfschiffes,  bereichert  uns  mit  einer  Fülle  
 interessanter  Betrachtungen  und  gehört  nicht  zu  den  geringsten  
 Früchten  einer  solchen  mühseligen  und  kostspieligen  Beise.  Im  
 Wechselgespräch  über  die  beiderseitigen  Erlebnisse,  im  Austausch  
 der Ansichten  über  die  gemachten Erfahrungen  erweitert sich  unser  
 Blick  und  schärft  sich  unser  Urteil.  Gleichzeitig  aber  werden  wir  
 auch  milder  und  toleranter  gestimmt;  denn  wir  überzeugen  uns  
 immer  klarer  und  fester,  daß  der  Mensch  im  Grunde  überall  derselbe  
 bleibt,  daß  die  Verantwortlichkeit  des  Menschen  für  seine  
 guten  und  bösen Handlungen  nicht  auf  einer mystischen  „Willensfreiheit“ 
   beruht,  sondern  das notwendige  Produkt  von zwei  großen,  
 in  steter  Wechselwirkung  befindlichen  Faktoren  ist:  einerseits  der  
 angeborenen  körperlichen  und  geistigen  Eigenschaften  der  individuellen  
 Persönlichkeit,  die  durch  Vererbung  von  Eltern  und Vorfahren  
 bedingt  sind;  andererseits  der veränderlichen  Existenzbedingungen, 
   der  mannigfaltigen  Einflüsse  der  Außenwelt,  an  welche  
 der  Organismus  durch  Anpassung  gewöhnt  wird. 
 Ein  anderer  großer  Vorteil  ist  die  Isolierung  von  der  Heimat  
 und  ihren  Gewohnheiten,  die  Befreiung  von  der  Last  der  Arbeiten  
 und Geschäfte,  mit  denen man  zu  Hause  niemals  fertig wird.  Insbesondere  
 empfand  ich  abermals  auf  dieser  Beise  nach  und  von  
 Insulin de  als  besondere  Wohltat  die  Sicherheit  vor  der  Post,  die  
 uns  mitten  im  Ozean  weder  mit  Zeitungsklatsch  und  Korrekturplagen, 
   noch  mit  überflüssiger  Korrespondenz  erreichen  kann. 
 Viel  freier  und  ungezwungener  als  zu  Hause  ist  auch  die  tägliche  
 Unterhaltung,  die offene  Aussprache  über  politische  und  religiöse  
 Interessen.  Bei  uns  in  Deutschland,  wo  „Suprema  lex  regis  
 voluntas“   ist,  hat  in  den  letzten  20  Jahren  bei  jedem  nicht  ganz  
 vertraulichen  Gespräche  die  Angst  vor  der  allmächtigen  Polizei  
 wieder  dergestalt  zugenommen,  daß  man  sich  immer  zuvor  umsieht, 
   ob  nicht  irgendwo  ein  Polizist  oder  Staatsanwalt  im  Verborgenen  
 lauert.  Davon  ist  in  dem  freien  internationalen  Verkehr  an  
 Bord  der  großen  Ozeandampfer  keine  Rede. 
 Vielfacher  Gegenstand  lebhafter  Unterhaltung  waren  an  Bord  
 der  „Kiautschou“  natürlich  auch  die  gewaltigen  chine sischen  
 Wirren.  Auf  dem  Vorderdeck  befanden  sich  über  zweihundert  
 deutsche Krieger,  die als dienstuntauglich von  China zurückkehrten,  
 teils  infolge  schwerer  Verwundungen,  teils  als  Rekonvaleszenten.  
 Was  sie  über  ihre  Erfahrungen  im  Lande  des  Zopfes  erzählten,  
 lautete  wenig  erbaulich.  Die  Hauptschuld  an  dem  Ausbruche  des  
 seltsamen  Krieges  zwischen  China  und  der  übrigen  Welt  wird  im  
 Osten  allgemein  den  christlichen  Missionaren  aufgebürdet,  die  zum 
 größeren  Teil  mit  ebenso  wenig  Verstand  als  Sachkenntnis  ihre  
 moderne  Propaganda  in  dem  alten  Kulturlande  China  ausgeübt  
 hätten.  Es  bestätigte  dies  nur  eine  Überzeugung,  die  ich  schon  auf  
 früheren  Reisen  gewonnen  hatte.  Es  gibt  unter  den  christlichen  
 Missionaren  gewiß  viele  vortreffliche  Männer,  die  als  vernünftige  
 K u ltu r tr ä g e r   den  niederen  Bildungsgrad  der  Naturvölker  und  
 Barbarvölker  auf  eine  höhere  und  glücklichere  Stufe  zu  heben  
 suchen.  Die  Mehrzahl  sind  leider  mehr  oder  weniger  beschränkte  
 Theologen,  die  als  K o n fe s s io n sp red ig e r   unverständliche  Dogmen  
 in  jene  Gehirne  eintrichtern  und  nur  eine  Form  des  Aberglaubens  
 durch  eine  andere  ersetzen  wollen. 
 Vortreffliche  Betrachtungen  über  die  Einführung  des  Christentums  
 in  Insulinde und  über  die  Bedeutung  dieser hoch  entwickelten  
 Kulturreligion  für  die  dortigen  Naturvölker  enthält  das  gedankenreiche  
 Buch  von  Franz  Junghuhn:  „Licht-  und  Schattenbilder  
 aus  dem  Innern  von  Java1) “ .  Der  Verfasser  -S-  ursprünglich  preußischer  
 Militärarzt,  1812  in  Mansfeld  geboren  Jjl  hatte  sich  während  
 der  dreißig  Jahre  seines  Aufenthaltes  in  Insulinde  nicht  nur  
 die  gründlichste  Kenntnis  seiner  Tier-  und  Pflanzenwelt  erworben,  
 sondern  auch  die  tiefsten  Blicke  in  Leben  und  Charakter  der  Eingeborenen  
 getan;  er  zeigt  einleuchtend,  wie  wenig  die  abstrakten  
 Lehren  des  Christentums  und  die  Dogmen  seines  Wunderglaubens  
 geeignet sind,  auf dem fremdartigen Boden  des Malaiischen Geisteslebens  
 erfreuliche  Früchte  reifen  zu  lassen. 
 Interessante  Einzelheiten  wüßte  ich  sonst  von  meiner  Heimreise  
 nicht  zu  berichten.  Das  Frühlingswetter  und  die  freundliche  See  
 blieben  sich  fast  immer  gleich.  Einen  halben  Tag brachten wir  am  
 17.  März  in  Colombo  zu,  wo  wieder  Kohlenvorräte  eingenommen  
 wurden.  Von  der  großen  einsamen  Insel  Socotra  sahen  wir  auch  
 diesmal  wenig;  sie  blieb  größtenteils  in  Wolken  gehüllt. 
 Dagegen  zeigte  sich  in  voller  Klarheit  die wilde,  zerklüftete  und  
 farbenreiche Felsenküste  des  öden  Aden,  ohne Wasser,  ohne Vegetation. 
   Wir  blieben  an  diesem  trostlosen  Orte,  den  ich  in  meinen  
 „Indischen Reisebriefen“  geschildert habe,  einen halben Tag liegen.  
 Am Abend  dieses Tages  (2 3. März)  genossen wir  eines  der  wunderbarsten  
 Farbenspiele,  die  ich  je  gesehen  habe.  Während  bei  und  
 nach  Sonnenuntergang  der  wolkenlose  Himmel  in  allen  Farben  
 des  Regenbogens  prangte,  überwiegend  Gelb  und  Orange,  kleidete  
 sich  die  Küste  von  Aden  und  den  kleinen  vorliegenden  Inseln  in  
 die  prachtvollsten  blauen,  violetten  und  Purpurfarben.  Als  ich  die1) 
   Das  Hauptwerk  von  Franz  Junghuhn:decke  und  innere  Bauart    Java,  seine  Gestalt,  Pflanzen( 
 3  Bände),  ist  noch  heute  von  fundamentalem Werte.