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Diese Thatsache, welche nicht genug gewürdigt werden kann, führt dem
sinnigen Lichenologen deutlich vor die Seele, unter wie verschiedenen
Lebensverhältnissen eine Flechte an einem und demselben Standorte leben
muss, sie lässt ihn ferner ahnen, dass die endliche vollkommene Erforschung
dieser geheimsten Vorgänge des Pflanzenlehens dem Auge und
dem Geiste iu eine unabsehbar weite Ferne gerückt ist. Trotz alledem
wird der Leser ein Stück Flechtenleben mit mir belauschen, das in
s e i n e r E i g e n a r t i g k e i t durchdacht und erfasst sein will, um es ganz
geniessen zu können. Wer mit einer Eingenommenheit für einen bereits
weiten Fortschritt der Botanik, im besonderen der Algologie, an diese
Betrachtungen herantritt, wird sich ungenehm enttäuscht fühlen. Wer dagegen
mit mir den Standpunkt der Wissenschaft dahin anffasst, dass, was
auch immer zu Tage gefördert sein mag, nur erst ahnen lässt, was alles
erst künftigen Geschlechtern beschieden sein dürfte, wird darauf vorbereitet
se in, wenn er an die Erforschung der verborgensten Lebensvorgänge
einer so überaus wenig erst gekannten Pflanze, wie der Flechte,
herantritt, Erscheinungen des Zellenlebens kennen zu lernen, welche durch
ihre Abweichung von den nach bekannten Fällen aufgestellten Gesetzen
vielleicht eine Reformation auf dem Gebiete der Phytotomie und der
Pflanzen-Systematik nach sich ziehen könnten, kaum aber in bestehende
Normen sich hineinzwängen lassen dürften. Die Gewebelehre erhält durch
die Lehre von der Blastesis ganz bedeutenden Zuwachs. Da die Flechte
unfähig ist, ein Gewebe, wie es den höheren Pflanzen eigenthümlich
is t , zu bilden, so müssen alle Erscheinungen der Sprossung sich an der
Hyphe oder dem Gonidium abspielen, so oomplioirt sie auch sein mögen.
Um dies möglich zu machen, stehen der Flechte zwei Mittel zu Gebote :
eine bis in das Extrem gehende Variation der Gestaltung und der Vermehrungstypen
der Zelle und die Einschliessung von Lebensvorgängen
in das Z e l l e n i n n e r e , für welche andere Pflanzen die mannichfaohsten
Gewebebildungen nöthig haben.
Die Blastesis.
Die überreiche Fortpflanzung, welche bei Leptogium myoehroum
ihren Ausgang von dem Lager nimmt, hat ihren Hauptsitz an der ünterfläche
desselben, besonders aber im Hypothallus. An der Oberfläche
findet zwar eine in der Regel massenhafte Reproduction statt, allein sie
bedient sich nur einzelner oder weniger Typen. Die Zweifel au der Wahrheit
der Auffassung des Hypothallus, welche schon durch seine massenhafte
Ausbildung hervorgerufen werden, werden verstärkt durch das Vorkommen
derselben Gebilde als Epithallus bei Leptogium myoehroum. Hiermit
wird natürlich die Auffassung von Rhizinen gänzlich zurückgewiesen,
diejenige von Haftfasern auf einen sehr bescheidenen Umfang eingeschränkt
Die bereits vor Jahren gemachte Beobachtung von Lageranfängen mitten in
dem Hypothallus wiederholte ich, als mir im verflossenen Jahre die Nothwendigkeit
der Abwehr eines Angriffes die Untersuchung dieses Lagerabschnittes
bei derselben Flechte auferlegte, bei welcher Gelegenheit ich
so sehr durch die auffallendsten Reproductionserscheinungen gefesselt
wurde, dass ich diese glücklichen Erfolge veröffentlichen kann.
Die Bedeutung des hypothallinen Filzes ist aber ausser der direkt
von ihm ausgehenden Sprossung und Hormosporenbildung noch eine ganz
andere. Vergegenwärtigt man sich diese dichten Fasermassen, welche
durch das Hyphema nur noch mehr verdichtet werden, so leuchtet es ein,
dass es auch zugleich der in ihm sich entwickelnden Reproduotion den
erforderlichen Schutz zu verleihen vermag. In dieser Fähigkeit wird der
Hypothallus aber noch unterstützt durch das Hinzukommen einer dritten
Gewebemasse. Bald in geringerer Zahl, bald aber die sogenannten Rhizinen
an Menge vollkommen verdrängend, entsteht an der ünterfläche des
Lagers eine andere Faser, in welcher man sofort einen Hyphema-Faden
erkennt als in dem Stadium befindlich, da er sich durch dichtere Anordnung
seiner Zellen und ein Wachsthum derselben zur Gonohyphe umzubilden
beginnt. Man kann, da diese Fäden oft ganze Flächen bedecken,
leicht alle sich, bald durch regelmässiges Waohsthum, bald durch den
mannichfachsten Wechsel auszeichnendeii Entwiokelungszustände überblicken
(Taf. I, Fig. 30 a— c). Diese bei dichterem Auftreten meist etwa 0,05 mm.
langen Fäden erreichen eine ausserordentliche Länge, wo sie zwischen der
hypothallinen Fasermasse eingestreuet Vorkommen. Bei weiterer Längenausdehnung
kehren sie ebenfalls, wenn sie ihren Zweck nicht ausführen
konnten, unter Verschlingungen zur Lagerfläche zurück (Taf. II, Fig. 13 b).
Auch diese Fäden werden in der Regel von dem zarten Hyphema-Netze
umsponnen.') Ueber den Ursprung dieser Fäden kann man sich leicht
Aufklärung verschaffen, wenn man sich die zwiefache Zusammensetzung
der Rindenschicht des Lagers vergegenwärtigt, und den Bau derselben
mit demjenigen des Rinden-Maschengewebes vergleicht. Auch sie dienen
als Beweise für die Wahrheit der neuen Auffassung von der Natur der
Eindenschicht. Als Schutzmittel dienen diese Hyphen nur in dem Falle,
wenn sie ausschliesslich weitere Lagerflächen bedecken.
‘) In der Fig. 13 der Taf. II ist die Darstellung des Hyphema-Netzes unterlassen.
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