Schon Barrois (’82, S. 392 f.) hat betont, dass die Phylactolämen sich durch „das Fehlen
des Entoderms“ eng an die marinen Cyclostomen anschliessen, und später haben Dayenport (’91, S.
90 ff.) und Prouho (’92, S. 635 ff.) gezeigt, dass unter den Gymnolämen selbst eine allmähliche
Annäherung an die Verhältnisse der Cyclostomen stattfindet. In besonders klarer Weise hat Prouho
dargethan, wie diese Annäherung sich als eine Folge der fortschreitenden Entwickelung im Mutterleibe
ergiebt, und ich will seine Ausführungen hier im Auszuge hersetzen.
„Ein Cyphonautes besitzt ein ebenso echtes Entoderm wie eine Pedicellina-L-àrve; er setzt
sich behufs der Verwandlung fest, und sogleich geht sein Darm durch Histolyse zu Grunde, worauf
sich ein neuer Darm bildet, und zwar derart, dass das innere Blatt ausschliesslich vom Ectoderm der
Larve sich herleitet. So ist es bei sämtlichen Gymnolämen; bei allen geht das Entoderm auf dieselbe
Weise zu Grunde: es verschwindet, ohne in den bleibenden Stock überzugehen, entweder nachdem
es sich differenzirt hat — ovipare Formen —, oder schon vorher — bei allen viviparen Gymnolämen
—, und bei diesen kann man eine interessante Rückbildung dieses Blattes nachweisen.
„Bei Flustrella, Alcyonidium mytili und wahrscheinlich noch anderen bildet das Entoderm
einen Sack, der bis zu einem ziemlich vorgeschrittenen Entwickelungsstadiiim deutlich bleibt, aber
noch vor dem Ausschlüpfen der Larver^ resorbirt wird.
„Bei Bugula, Lepralia u. a. verschwindet das Entoderm fast unmittelbar nach seinem Erscheinen
und bevor die Larvenorgane gebildet sind.
„Bei den Cyclostomen (Discopora) kann man nicht mehr bestimmt sagen, ob das Entoderm
sich überhaupt noch zu differenziren beginnt.
„Das primäre Entoderm hat demnach eine ausgesprochene Tendenz, bei den Larven der
Viviparen zu verschwinden.
„Setzen wir nun den Fall, dass bei gewissen Ectoprocten die Viviparität so weit gediehen
wäre, dass der ausschlüpfende Embryo bereits die Organe des jungen Stockes besässe, und halten wir
die Hypothese fest, dass die viviparen Bryozoen von den Oviparen abstammen: so dürfen wir annehmen,
dass bei jenen vollständig viviparen Formen die ontogenetischen Vorgänge im höchsten Grade vereinfacht
sein werden.
„Nun, dieser angenommene Fall ist bei den Phylactolämen verwirklicht. Hier entwickelt
sich aus dem Ei direct ein Cystid, ohne dass eine Histolyse dazwischentritt. Das primäre, wirkliche
Entoderm, dasjenige, was bei den Oviparen den Larvendarm bildet, erscheint nicht mehr, und auf die
Bildung des Ectoderms folgt die des Mesoderms, welches die Wände des Ectodermsackes [bei Prouho
steht Entoderm] auskleidet.“
Ganz ähnlich sagt Davenport, ’91, S. 94: „Dass das Entoderm die letzte Staffel der
Degeneration bei den Phylactolämen erreicht, ist leicht verständlich, wenn man erwägt, dass die
Larve sich in einem geschlossenen Oöcium aufhält, in dem sie nach Art eines Parasiten ernährt wird.“
Gut. Wenn nun aber, wie beide Autoren behaupten, das primäre Entoderm nach und nach
schwand, sollen wir annehmen, dass es im Wege eines allmählichen Functionswecbsels in die Rolle
des Mesoderms eintrat, oder dass es an und für sich, materiell, unterdrückt wurde?
Man sieht, hier grenzen die erste und zweite Auffassung eng an einander, und die Frage,
welcher von beiden wir folgen sollen, wird durch die vorhandenen Angaben keineswegs gelöst. Gerade
in den entscheidenden Fällen, bei Bugula und Lepralia, hat die Annahme eines Functionswechsels
leichtes Spiel. Vigelius (’86, S. 522) meint, „dass die Mesodermanlage . . . bei Bugula . . . sich
von den Hypoblastelementen gar nicht mehr trennt und von ihrer Entstehung ab mit diesen eine
zusammenhängende Zellenmasse darstellt“, die „morphologisch sowohl dem Hypoblast als dem Mesoblast
entsprechen würde.“ Wenn nun aus dieser das primäre Entoderm repräsentirenden Füllmasse in
Wirklichkeit nur das mesodermale Epithel nebst einer Anzahl indifferenter Nährzellen hervorgeht,
so wäre das wohl am ehesten so zu deuten, dass die Zellen, welche ursprünglich den Darmsack bildeten,
ihre entodermale Natur zu Gunsten der mesodermalen geändert haben, dass also das primäre Entoderm
zwar physiologisch, nicht aber morphologisch geschwunden ist.
Ich weiss nicht, ob Davenport und Prouho sich des principiellen Gegensatzes dieser Anschauungen
bewusst gewesen sind, und wenn ich trotzdem ihre Namen zur zweiten Ansicht gestellt habe, so geschah
es mehr, weil der Geist ihrer Ausführungen dafür spricht, als weil sie es klar gesagt haben. Prouho
scheint allerdings der morphologischen Auffassung zu huldigen, wenn aber Davenport (’91, S. 90) die
vier Zellen, aus denen nach seiner Meinung bei Gristatella das Mesoderm entsteht, den vier Entoderm-
zellen der Gymnolämen homolog setzt, so statuirt er damit unzweifelhaft einen Functionswechsel. Wie
flüssig die Grenze zwischen den beiden Anschauungen ist, zeigt auch das Beispiel Kraepelin’s
(’92, S. 23), der das Leibeshöhlenepithel als „Mesoderm“ , seine Bildung aber als „Gastrulation“
auffasst und sich gleichzeitig „rückhaltlos“ an Davenport anschliesst.
Ich halte es, wie erwähnt, für unmöglich, hier auf Grund blosser Vergleichung ins Reine zu
kommen, weil gerade über den Ursprung des Mesoderms der Gymnolämen noch keine genügende
Klarheit herrscht. Indessen sind meine oben mitgetheilten Befunde wohl hinreichend, um es für die
Phylactolämen zur Gewissheit zu machen, dass thatsächlich das primäre Entoderm der Rückbildung
unterliegt, dass mithin diejenigen Zellen, welche bei Mevnbranipora, Flustrella, Alcyonidium, Paludicella
und anderen Gymnolämen das später entartende innere Gastrulablatt liefern, bei den Phylactolämen
ebenfalls unterdrückt werden.
Zur Rechtfertigung meiner Deutung will ich nur noch die Übereinstimmung in der Zahl
der Zellen, welche durch die Gastrulation nach innen verlegt werden, betonen: In einigen Fällen
konnte ich mit Bestimmtheit vier solcher Zellen nachweisen, eine Zahl, die für sämtliche Gymnolämen-
gruppen — bis auf die Cyclostomen, die sich in anderer Weise entwickeln, — charakteristisch ist.
Im Übrigen mag es genügen, dass gerade die Forscher, die in neuerer Zeit am genauesten über den
Gegenstand nachgedacht haben, zu Folgerungen gelangt sind, welche mir jene Deutung fast in den
Weg legten. Davenport (’91, S. 95) hat seine Zustimmung gewissermassen im Voraus ertheilt, indem
er mit Bezug auf die degenerirenden Zellen Korotneff’s — meine Binnenzellen — erklärt, dass, „wenn
sie regelmässig Vorkommen sollten, er geneigt wäre, sie als das entartete Entoderm zu betrachten.“
Damit könnte nun wohl die Entodermfrage der Bryozoen im Grossen und Ganzen als gelöst
gelten, wenn nicht die Cyclostomen ein Hindernis bildeten.
Während man diese Gruppe noch vor Kurzem für die den Phylactolämen am nächsten stehende
halten durfte, ist sie neuerdings durch die Untersuchungen von Harmer (’93, ’96) in hohem Grade
isolirt worden. Ja es scheint, als ob sich die Keimblattbildung hier in ganz anderer Weise vollzöge
als bei den übrigen Vertretern der Klasse, in einer Form, die ich gelegentlich (’95, S. 439, S. 13
d. Sep.) als „directe Differenzirung“ oder „Differenzirung an Ort und Stelle“ bezeichnet habe. Der
einzige Fall, wo Harmer (’93, S. 217) eine Art von Invagination zu finden vermocht hat, ist sehr
unsicher und dem Autor selbst fraglich geblieben. Sodann, wo ist bei den Cyclostomen das degenerirende
Entoderm? Harmer hat sich über die Bedeutung der Keimschichten in der Schrift über Crisia
ausgesprochen (’93, S. 225): „ I am inclined to regard the inner layer of the Cyclostome embryo as
mesodermic rather than endodermic . . . . The peculiar Charakter of the, early development of Crisia