
Kaum sind gegen irgend einen Theil der Phrenologie mehre und stärkere Beweise vorgeßracht
worden, als gerade gegen diesen; dennoch wird die widerlegte Ansicht mit gleicher Hartnäckigkeit
festgehalten.
Bekanntlich fehlt unter den Fischen das Cerebellum bei Amphioxus; bei Myxine ist es gespalten,
bei Petromyzon nur eine blattförmige Commissur. Nach dein bedeutenden Umfange der Genitalapparate
dieser Thiere zu urtheilen, hat man keinen Grund, bei ihnen einen denselben entsprechenden
Geschlechtstrieb zu bezweifeln. Da bei diesen," den niedrigsten Vertebraten, das Cerebellum abnimmt
und schliesslich zu existiren aufhört, ist aller Grund zu der Annahme vorhanden, dass dies noch
mehr der Fall bei Thieren ohne Rückenmark sein werde, bei denen der Geschlechtstrieb oft eine
weit ausgezeichnetere Rolle, als bei den Wirbelthieren, spielt. Gehen wir aber-zu diesen zurück,
so finden wir das kleine Gehirn bei den nackten Amphibien, als Fröschen und Salamandern, auch
auf eine einfache, blattförmige Commissur reducirt, obgleich, wie J oh. Mü l l e r sich äussert, ’’der
Geschlechtstrieb dieser Thiere zum Sprichworte geworden ist.” Wenig ist dies Organ bei den Vögeln
ausgebildet, und wie weit steht es nicht bei den Säugethieren in der Ausbildung seiner Hemisphären
hinter dem des Menschen zurück! Wie allgemein bekannt ist, steht das Cerebellum auf einer sehr
niedrigen Entwickelungsstufe bei den Nagern, bei denen doch im Allgemeinen der Paarungstrieb so
stark ist.
Es könnten viele Beispiele aus der pathologischen Anatomie angeführt werden, welche auch
gegen den GALL’schen Satz sprechen; einer der merkwürdigeren ist ein von Cruveilbuer angeführter
Fall, in welchem es sich nämlich bei einem jungen wahnwitzigen Mädchen, welches an den Folgen
der Selbstbefleckung gestorben war, nach dem Tode zeigte, dass das Cerebellum und die Varols-
brücke fehlten.
In Uebereinstimmung mit seinem Satze behauptet G a l l , dass die Castration eine Verminderung
der Entwickelung und des Volumens des Cerebellums verursache. L eu r e t hat hierüber eine Menge
von Untersuchungen veranlasst. Sie sind in der Veterinärschule zu Alfort von G érard Marchant
unter dem Beitritte L assaigne’s angestellt worden. Sie liefern ein dem Satze G a l l ’s und der Phre-
nologen ganz entgegengesetztes Resultat. Die Untersuchungen geschahen an zehn Hengsten, zwölf
Stuten und ein und zwanzig Wallachen, und zeigten das Gewicht des kleinen Gehirnes
bei den Wallachen, in mittlerer Zahl, 70 Grammen
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Wenn hiezu auf der einen Seite die Beweise durch Experimente, für welche wir besonders
F lourens zu danken liaben, dass das Cerebellum ein motorisches Organ, ein Organ für das Coordi-
niren der Muskelbewegungen ist, und auf der andern so manche' Gründe, welche für die nahe Theil-
nahme des Rückenmarks an den Geschlechtsverrichtungen sprechen, gerechnet, und ihnen noch so
mannigfache Bestätigungen aus der pathologischen Anatomie hinzugefügt werden: so-scheinen in
Wahrheit die Fehlgriffe der Phrenologen auch in diesem Theile ausser allem Zweifel gesetzt zu sein.
Gleich über die Region des Cerebellums, nämlich auf das Tuber occipitale, hat man die Kinder-
und Jungenliebe, besonders die mütterliche, verlegt. Dieser Theil #des Schädels umschliesst die
hinteren Gehirnlappen, in deren hintersten Windungen auch das Centralorgan für diesen Instinkt
liegen sollte.
Sowohl G a ll, als auch seine Nachfolger, haben dabei das wichtige Factum aus der vergleichenden
Anatomie übersehen, dass die hinteren Lappen mit wenigen Ausnahmen bei den meisten Säugethieren
vermisst werden und nebst den mittleren Lappen bei allen Vögeln, Amphibien und Fischen fehlen.
Diesen Thieren würde dann auch das in Rede stehende phrenologische Organ, sowie der Instinkt,
welchen G a l l und seine Nachfolger an dasselbe knüpften, abgehen. Dass das Letztere nicht der
Fall ist, ist hinlänglich bekannt.' Sowohl bei den Säugethieren, als bei den Vögeln ist die Zuneigung
der Eltern, und am meisten der Mütter zu ihren Jungen, und ihre Fürsorge für dieselben wohl bekannt,
und auch unter den Fischen hat man in neueren Zeiten diesen Instinkt bei den Milchern von
Syngnathus und Gasterosteus beobachtet (E kström, C oste).
Sowohl G a ll als seine Nachfolger h$ben es sehr gut gewusst, dass die innere Wand des Schädels
nicht parallel mit der äussern ist, und dass :^dies besonders für die Orbitalregion der Stirn gilt.
Nichts desto weniger haben sie dort Organe zusämmengehäuft. Sie haben es ebenfalls wohl gewusst,
wie wenig, ja in vielen Fällen gar nicht, die äussere Form. des Schädels der Cerebralcavität bei den
Thieren entspricht; aber nichts desto weniger haben sie die Organenregionen unter diesen so contra-
stirenden Verhältnissen festgesetzt.
Die Phrenologen haben ganz und gar die Ordnung übersehen, in welcher die Gehirnlappen sich
entwickeln, sowohl beim Menschen selbst, als in den verschiedenen Klassen der Wirbelthiere. Ich
habe früher, bei der Zusammenkunft der Naturforscher in Christiania, und später an einer andern
Stelle') aufmerksam auf dies Verhalten gemacht und will hier nur kurz anführen, was niemand
wohl jetzt hoch bezweifeln wird, dass sich beim menschlichen Embryo die vorderen Gehirnlappen
zuerst, nach ihnen die mittleren, und zuletzt die hinteren entwickeln. Unter den Rückgratstliieren
haben, wie oben angemerkt ward, die Fische, Amphibien und Vögel nur die vorderen Lappen der
Hemisphären. Die Gehirnhemisphären der Säugethiere’haben zwei Lappen, die vorderen und mittleren.
Die hinteren Lappen kommen in diese? Ordnung bloss ausnahmsweise und unvollkommen
entwickelt vor, so dass die hinteren Lappen den Schlussstein in der Bildung des Gehirns ausmachen
und eigentlich dem Menschen angehören.
Aus diesem Verhalten scheint man schliessen zu können, dass diesen Lappen eine Rangfolge
.nach der Stufe, die sie in der Entwicklung einnehmen, zuzuschreiben sei, nach welcher die vorderen
Lappen am niedrigsten, die mittleren höher und die hinteren am höchsten in der funktionellen Rangordnung
und Bedeutung stehen, was durchaus den phrenologisühen Ansichten entgegengesetzt ist.
Diese Einwürfe, welche vorzüglich aus dem Gebiete der speciellen Anatomie und Physiologie
entnommen sind, dürften es Jtiinlänglich zu Tage legen, dass grosse und wesentliche Fehler in den
dargebotenen Gründen Statt, finden, auf welche die in Rede stehende Lehre sich stützen sollte. Sie
haben schon lange Zweifel gegen ihre Zuverlässigkeit erweckt; aber ich habe,-gleich vielen Andere%
aus Achtung für die reiche Erfahrung so vieler Forscher und für die Auctorität so vieler ausgezeichneter
Männer die Hoffnung gehegt, dass der praktische Theil von grösserem Werthe sein würde,
als der theoretische; aber auch hierin habe ich Anlass zu neuen Zweifeln gefunden.
- N ilsson’s und E schricht’s wichtige Beobachtungen über Menschenschädel aus Skandinaviens
vorzeitlichen Gräbern erweckten ein lebhafteres Interesse für das Studium der ethnographischen
Schädelformen, und veranlassten mich, diesem Studium in seiner ganzen Ausdehnung eine verdiente *)
*) Ofvcrsigt af Kongl. Vetenskaps-Akademiens Förliandlingar 1844.
lioitNSCHUCtt’s Archiv Skand. Beiträge zur Naturgesch. 1845. Th. 1.