Beurtheilimg der Phrenologie von anatomisch-ethnologischem
Standpunkte aus.1)
SSTenige Lehrgebäude haben ein grösseres Aufsehen erregt, als dasjenige, mit welchem Gall am
des vorigen Jahrhunderts auftrat Es wurde als eine ganz neue Disciplin betrachtet und
Gall’s Schädellehre genannt. Es war im Jahre 1796, als Gaul in Wien seine erste Vorlesung über
die Kraniologie hielt. Indessen zeigt doch die Geschichte, dass Mehre vor Gall Ansichten ähnlicher
Art über das Verhattniss zwischen der Form des Schädels-nnd den Eigenschaften der SeelA gehegt
haben. Skjeldebüp erwähnt in seiner Geschichte des anatomischen Studiums bei der Universität in
Kopenhagen, dass ein Schüler von T homas Bartholinus, Namens Griffenfeldt, in der Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts mit dergleichen Ideen beschäftigt gewesen sei. Dieser Griffenfeldt würde1
jedoch zu etwas Anderm als zum Naturforscher bestimmt. Er ward nämlich Staatsminister, und in
Folge dessen geschah es vermuthlich, dass er nicht dazu gelangte, Schriften über die Kranioskopie
zu hiuterlassen.
XJall widmete det- Aufrechthaltung und der Entwickelung seiner Lehre rastlose Anstrengungen.
Um Erfahrungen übeir das Verhältniss zwischen der Schädelform und den Seeleneigenschaften zu
gewinnen^ waren die zahlreichsten Beobachtungen erforderlich, so wie auch neue Untersuchungen
üj)er die Anatomie des Gehirns nöthig waren, um der neuen Lehre eine wissenshaftliche Grundlage
,zu geben.
Während er sonach mit Beihülfe seines Freundes und Schülers Spuezheim seinen Vorrath von
Erfahrung in der eigentlichen Kranioskopie bereicherte, erwarben sich Beide eine grosse Fertigkeit
in deü- Art, den Bau des Gehirns und Rückenmarks einfach und klar darzulegen. Auch in diesem
Theile brachen sie eine sa gut wie ganz neue Bahn und werden als Diejenigen betrachtet, welche
zuerst die Entstehung des Gehirns vom Rückenmark aus gezeigt haben.
^“ Lindliiiger « d de S k u d ta nU » Natarforskeree femte Müde i ^ f e n l a r a 1647 pag. 178. Offentligt föredrag: Phn-
■ Apologien bedömd frön en anatomisk Standpunkt.
Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin herausg. von Joh. Müller 1848 pag. 233* Aus d Schwed
von P. C. H. Creplin.
Schon im Anfänge seines Auftretens zeigte G a ll ein grosses Talent zum mündlichen Vortrage.
In Wien, Berlin und mehren grösseren Städten hielt er Vorlesungen über die Anatomie des Gehirns
und über die Schädelform, als,:.: die Seeleneigenschaften ausdrückend. Diese Vorträge wurden von
zahlreichen Zuhörern besucht und durch enthusiastischen Beifall gefördert.
Aber die neue Lehre hatte dabei mächtige Gegner; Geistliche und Rechtsgelehrte, Moralisten
und Philosophen verwarfen sie; die ausgezeichnetsten Anatomen und Physiologen jener Zeit verweigerten
derselben ihre Anerkennung. Nach einem solchergestalt mehrjährigen Kampfe im Vaterlande
wählten G a ll und S pu ezheim Paris zum Aufenthalte, um ein freieres Feld für die Grundlegung
und Ausdehnung ihrer Lehre zu gewinnen. G a ll wurde auch hier mit Enthusiasmus empfangen
und zählte selbst C u v ie b zu seinen Zuhörern.
Im Jahre 1808 legte er dem französischen Institute sein und seines Freundes erstes grösseres
Werk über die Anatomie des Gehirns vor unter dem Titel: ’’Recherches sur le système nerveux en
général et sur le cerveau en particulier, Mémoire présenté à l’Institut de France le 14. Mars 1808
par G a l l et S puezheim.” Abgesehen von dem grossen Verdienste der Verfasser, zuerst das Gehirn
als eine fortgesetzte Entwickelung vom Rückenmark aus und die Nervenstränge als ihren Ursprung
aus der grauen Substanz herleitend betrachtet zu haben, enthält dies Werk wenig Neues für seine
Zeit, aber verschiedenes Unrichtige. Zu dem letztem gehört die Behauptung, dass das Rückenmark
eine Menge kleiner Anschwellungen oder Ganglien, entsprechend dem Ausgange der Nerven, enthalte,
wie es der Fall bei den Insekten und den übrigen Articulaten ist. Sie behaupteten, dieses Verhalten
besonders deutlich bei mehren Thieren und auch beim Menschen dargelegt zu haben. Wie ungemein
oft ist nicht das Rückenmark seitdem mit grosser Genauigkeit und Geschicklichkeit in allen?.seinen
Entwicklungsstadien untersucht worden, und dennoch hat man bis jetzt vergebens jene Gebilde gesucht.
MaeshaLl H a l l nimmt an, dass es dergleichen Abtheilungen im Rückenmarke gebe ; da aber die
Anatomie sie nicht zeigen kann, so nennt er sie physiologische. G a ll hat sie deutlich sehen wollen
und sie desshalb zu sehen gemeint, aber auf die Weise, dass er für solche Ganglien die Querzusammenziehungen
der fibrösen Pia mater genommen hat, welche durch die Einwirkung der Luft oder
des Wassers auf das Rückenmark entstehen, aber nicht angetroffen werden, wenn das Organ ganz
frisch untersucht wird. Das hierauf sich beziehende Präparat vom Rückenmark eines Kalbes, welches
er den Commissarien des Institutes vorzeigte, war unfehlbar auf diese Weise entstanden.
Nicht besser begründet ist die Darstellung der Verfasser von der Doppelheit der Gyri, von ihrer
Ausbreitung in eine sackförmige Membran, und eben so wenig sind es die^von Präparaten hÿdro-
cephalischer Gehirne entnommenen Erläuterungen, — Alles Dinge, welche weder gleichzeitige, noch
spätere Anatomen als richtig haben anerkennen können. Das Merkwürdigste von Allem ist, dass in
G a l l ’s und S pjjezheim’s anatomischen Schriften nichts über die verschiedenen Organe vorkommt
Sie überheben sich dieses Capitels auf eine eigene Weise, — sie erklären nämlich, es gehöre in die
Physiologie, nicht in die Anatomie.*) „
F lo u e en s äussert sich in seinem kleinen vortrefflichen Werke* 2): ”La vérité est que G a l l n’a
jamais eu d’opinion arrêtée sur ce qu’il nomme les organes du cerveau^il n’a pas vu ces organes;
il les imagine pour ses facultés. Il fait comme ont fait tant d’autres : il . commence par s’imaginer
une hypothèse et puis il imagine une anatomie pour son hypothèse.”
H Recherches sur le système nerveux, en général et sur le cerveau en particulier 1808.
2) Examen dé la Phrénologie, Paris v 1845, p. 68.