Auf dieser schwachen' anatomischen Grundlage versuchte Gall das, was er die Physiologie des
Gehirns nannte, zu erbauen. Sein vorzüglichster Beweggrund hierzu war, die Einheit der Seeln zu
bezweifeln und dann zu leugnen. Um dazu zu gelangen, sollte die Seele aus seinen sieben und zwWzig
Seelenfähigkeiten zusammengesetzt sein, deren »Gültigkeit weder Philosophen, noch Physiologen haben
anerkennen Wollen. Sie wurden auf eben so viele Regionen der dem Schädel zugekehrten Oberfläche
des Gehirns und kleinen Gehirns vertheilt, so dass ihre Entwicklungszustände auf der Oberfläche
des Schädels sollten wahrgenommen werden können. S pubzheim vermehrte späterhin die Anzahl bis
auf fünf und dreissig.
Den Grundsatz, welchem eben G a l l huldigt, dass das Gehirn das Seelenorgan sei, so wie dass
das Thätigkeitsvermögen dieses Organs seiner Form entsprechen müsse, scheint man im Allgemeinen
völlig berechtigt zu sein, a priori anzunehmen; indesdëmist die Darlegung dieser Entsprechungen
eine so schwere Sache, dass, ohgleich unsere Kentnisse vom Bau und von den Verrichtungen des
Gehirns in den letzteren Jahrzehenden grosse Fortschritte durch B u sd a g h , F lo u e en s , L eu ket , F oville
u. M. gemacht haben, dennoch die streng wissenschaftlichen Physiologen dieses Problem für so gut
als ganz ungelöst ansehen. Dass die Form des Schädels von der des Gehirns abhange, und dass
folglich die Seelenfähigkeiten bei den verschiedenen Individuen sich in den eigenthiimlichen Formverhältnissen
des Schädels ausdrücken, ist auch ein Satz, welcher alle Analogie für sich zu haben
scheint. Nichts desto weniger bieten uns die anatomischen Verhältnisse eine Menge von Einwiirfen
dar, welche die Phrenologen nicht befriedigend widerlegen können.
Ungeachtet G a l l ’s und S purzheim’s Lehre von den Organen auf die Bildung der Gyri basirt
sein sollte, hatten sie sieh doch niemals eine richtige Kenntniss von diesen Theilen erworben. Das
Letzlè|é ist sehr zu tentschuldigen, da noch lange nach ihnen alle Versuche auf diesem Wege misslungen
sind, bis uüs endlich F ov ille erst vor wenigen Jahren nach einer mehr als zehnjährigen
Arbeit eine annehmbare Grundlage für das Studium der Gehirnwindungen geliefert hat. Weniger zu
entschuldigen ist es aber, in einem Werke, welches grosse Ansprüche auf wissenschaftliche Déduction
macht, auf einen völlig defecten Grund gebaut zu haben.
Wenn ich annehme, dass F o v il l e 1) der erste und einzige ist, welcher eine natürliche Ein-
theilung der Windungen gegründet hat und ihnen mit G a l l die grosse Rolle zugestehe, welche sie
heim Ausfuhren der Seelenfähigkeiten spielen müssen: so zeigt uns gerade das Studium der Windungen,.
dass G a l l thejjs nur den kleinsten Theil dieser wichtigen Organe berücksichtigt, theils auf
eine 'Unpassende Weise dem Extérieur des Gehirns einen im Baue sowohl, als in der Function von
demselheif; ganz gesonderten Theil(|nämlich das kleine Gehirn, beigemengt hat.
Das grosse Gehiïn oder die Windungen seiner Hemisphären machen nach F ov ille vier Ordnungen
aus. Die erste und. jdritte dieser Ordnungen stehen in keiner Berührung mit der äussern
Wand fües SchädelJ1' und, können auf dessen äussere Bildung keinen direkten Einfluss haben; die
zweite Ordnung, welche die nach innen und gegen die Sichel liegenden bogenförmigen Ränder der
Hemisphären, wie auch die Ränder der sylvischen Gruben bildet, steht in sehr geringer Berührung
mlt ijH Wand des Schädels. Die vierte Ordnung nimmt dagegen den grössten Theil der gegen den
Schädel gewendeten Oberfläche der Hemisphären ein. Die vierte Ordnung der Windungen ist es
demnach, welche die phrenologischen Kranioskopen^u cultiviren haben würden. Diese Ordnung ist
von-jalleii die am meisten beim Menschen vor der béi den Thieren entwickelte und zugleich die
b Traité complet de l'anatomie de la physiologie et de la pathologie du système nerveux cérébrospimd. Ä s 1844
einzige, welche sich in der Wölbung des Schädels, ausdrücken kann. Aber vergleichen wir die Lage,
die .Richtung und den Gang der schönen, grossen und tiefgehenden Windungen, welche dieser Ordnung
angehören, mit der Form und Lage der Regionen der sogenannten phrenologischen Organe, sp
finden wir nicht die Spur davon, dass sie sich einander entsprächen, und "das um so mehr, als gerade
diese äussere Ordnung der Windungen beim Menschen unsymmetrisch und ungleich auf den beiden
Seiten ist, während dagegen die Regionen für die phrenologischen Organe auf beiden Seiten gleich sind.
JCs liegt ausserdem ein Theil der Oberfläche*der Hemisphären innen in den Hirnventrikeln,
nämlich der sogenannte Bogen, Fornix. Dieses Oigan haben G a l l und S purzheim, wie noch viele
Anatomen nacMihhen, als Commissuren betrachtet. Schon E schricht hat in seiner Physiologie die
Ansicht aufgestellt,' dass der Fornix im, Anfänge die unteren, gegen einander zusammengedrückten
Wände der Hemisphärenblasen ausmache.^Icli habei), ohne auf diese Aeusserung ein Gewicht zu legen,
dieselbe Ansicht lange verfochten und sie auch, wie ich glaube, zu genauer Bestimmtheit gebracht
sowohl durch mehre Untersuchungen an Embryonen, als auch durch klar dargelegte Thatsachen aus
der Thieranatomie; Beim Menschen und bei mehren Vierhändern verliert dies Organ viel ;von
seiner äusseren Aehnlichkeit mit der Oberfläche der Hemisphären; aber bei mehren Thieren, welche
ich aus den Ordnungen der Raubthiere, der Wiederkäuer und der Nager zu untersuchen Gelegenheit
gehabt habe, ist die untere Seite des Bogens mit grauer Substanz belegt, und mit Windungen versehen.
Dieser Gehirntheil kann sich eben so wenig, wie die drei ersten Ordnungen der Hemisphärenwindungen
auf der Oberfläche des Schädels ausdrücken.
Wir sehen demnach — und G all hat ebenfalls Kenntniss davon gehabt — dass der grösste Theil
der Oberfläche der Hemisphären in keiner Berührung mit den Regionen des Schädels steht, auf
welche die phrenologischen Organe placirt worden sind, das heisst, er ist von den Phrenologen als
Region für die Seelenorgane ausgeschlossen.
Anstatt mit anatomischer Consequenz der Oberfläche der grossen Hemisphären zu folgen, hat
man,, um der Schädelwand zu folgen, zu einer ganz anderen und eignen Partie des Cerebralsystemes,
nämlich zum kleinen Gehirn, übergehen müssen.
Diese Ansicht hat Vieles gegen sich. Auch das Cerebellum steht nur zum Theile mit dem
Schädel in Berührung. Die ganze obere Fläche der Würmer und der Hemisphären des Cerebellums
liegt bedeckt von den hinteren Lappen des grossen Gehirns; der merkwürdige Lobus centralis liegt
unter dem vorderen Theile des Cerebellums verborgen; ebenso- sinck die Flocken, die Mandeln und
der untere Wurm um die Medulla oblongata und den Hirnstamm eingebettet. Der über der untern*
Oberfläche des Cerebellums äbriiodellirte Theil des Hinterhauptbeins, welcher vqn S a n d ifor t den sehr
passenden Namen ’’Receptaculum Cerebelli” erhalten hat, liegt doch, wie dies Viele schon lange
bemerkt haben, zum grossen Theile so weit innerhalb der äusseren Nackenfiiuskeln, und innen so
nahe an der Vereinigung des Kopfes mit dem Rückgrate, dass er oft nur zu einem geringen Theil
wahrgenommen werden kann.
Die Phrenologen legen in diese Region den Ausdruck des Geschlechts- und Fortpflanzungstriebes
und betrachten Ms Cerebellum als dessen Centralorgan.
*) A. IIetzius: Om bildningen af hjernans hemisferev och mialf. Öfversigt af Kongl. Vetenskaps-Akademieus Förhandlingar
1844 j k 194.
IIoRNaipüCH’s Archiv Skand. Beiträge 1845 p. 429. Aus d. Scliwed. von F. C. H. Creplin.