obwohl schon veraltet und nun in mancher Hinsicht unvollkommen, den Nachkommen gezeigt haben,
welchen Weg'. sie gehen müssem um mit einigermassen sicheren Schritten dem Ziele näher zu
kommen. Mehr als zwanzig Jahre sind verflossen, seit die letzte Decade von B lumenbach’s Schädelsammlung
herauskam, und obwohl viele Schriftsteller nach ihm aufgetreten und mehre ihm unbekannte
Völkerstämme entdeckt worden sind, muss man doch eingestehen, dass | dieser Theil der
Naturgeschichte am weitesten von allen zurücksteht.
Die Ursache hierzu liegt nach meiner Ansicht darin, dass man sich nicht vor allem Andern mit
gehöriger Konsequenz an den wesentlichsten Theil des Kopfes, nämlich den eigentlichen Schädel,
welcher das Gehirn umschliesst, gehalten hat.
Es scheint, als ob man schon a priori anzunehmen berechtigt wäre, dass, insofern eine jede
Volksrace oder jeder Stamm eine gewisse psychische Individualität besitzen soll, diese sich besonders
in der Bildung des Gehirns ausprägen müsse. Diese schon von den Gründern der Phrenologie aufgestellte
Ansicht ist mit den Grundsätzen der Physiologie vollkommen übereinstimmend. Doch haben
die Phrenologen diesen Gegenstand mehr als einen Theil ihrer eigenen Wissenschaft, nicht aber
ethnographisch als eine Lehre von den Völkerschaften behandelt; in Folge dessen haben ihre Darstellungen
wenig Einfluss auf die letztere Wissenschaft ausgeübt. Es ist auch klar, dass, wie richtig
es immer ist, bei einer jeden Race oder Nation einen eigenen allgemeinen Charakter zu sehen, doch
daneben die persönlichen Eigenheiten sich mehr oder weniger bei den Individuen ausdrücken müssen;
je nach der verschiedenen Kultur und deren verschiedenen Richtungen. Es wird daher nöthig, genau
zu unterscheiden, was dem individuellen und was dem nationellen Charakter angehört. Hierzu sind
reiche Sammlungen und strenge Vergleichungen erforderlich. Bei Nationen, die im Naturzustände
leben, und denen, die übrigens auf einer niedrigeren Kulturstufe stehen, treten, die persönlichen Verschiedenheiten
weniger hervor. Dagegen entstehen grössere individuelle Verschiedenheiten in der
Bildung des Schädels in demselben Masse, als eine höhere und allgemeinere Bildung eiiigetrèfen ist.
Man muss daher bei civilisirten Nationen das Material zur Untersuchung vorzugsweise unter dem
eigentlichen Volke suchen, weniger bei den höheren Klassen, mehr in entlegenen Dörfern, als in
den Städten.
Als Nilsson 1838 im ersten Hefte seiner klassischen Arbeit über die Urbewohner des Skandinavischen
NordensJ) die Typen für den gothischen und den lappländischen Schädel feststellte, hatte er
nur Gelegenheit gehabt, einige wenige Specimina von diesen zu untersuchen. Er beauftragte mich,
als angestellt an einem Orte, in welchem eine grössere Menge von Exemplaren angeschafft werden
konnte, seine Angaben zu prüfen. Dieses habe ich gethan und bei der Versammlung der Naturforscher
Gesellschaft in Stockholm 1842 die Resultate dieser Prüfung mitgetheilt,2) welche die Ansicht
jenes scharfsinnigen Naturforschers in jeder Beziehung bestätigen.
Ich fand hierbei bald, dass die Eigentümlichkeiten in der Form, welche den Gothen so bedeutend
von dem Lappländer unterscheiden, auch bei anderen Nationen gefunden werden müssten. A Ich
ordnete die zur Hand liegenden Sammlungen hiernach, und so entstand die Aufstellung der Völkerschaften,
die ich . meinem Vortrage ’’Ueber die Schädelformen der Nordbewohner” beigefügt habe. Diese
Aufstellung theilte jch zuerst dem Professor R it t er aus Berlin mit, als er im Herbst 1840 das^nato-
mische Museum in Stockholm besuchte. Er billigte den Plan und forderte mich auf, ihn zu verfolgen;
bald darauf theilte ich denselben der Akademie der Wissenschaften, und im darauf folgenden Jahre
*) Den Skandinayiska Nordens Ur-invänare. Lund 1838—43.
2) s. o. Abhandl. I.
der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin, mit. Obwohl diese Eintheilung von verschiedenen
Seiten Beifall fand, so betrachtete ich sie doch als unsicher, so lange sie nicht einer vollständigeren
Prüfung unterworfen worden, und hätte sie in der genannten Abhandlung nicht dargestellt, wenn ich
nicht dazu besonders aufgefordert worden wäre vom Professor Carl S u n d ev a ll, dessen Kentniss in
den Naturwissenschaften und besonders in der Ethnographie ich so hoch schätze. Die Anwendbarkeit
der Aufstellung ist auch später vom Professor N il s s o n 1) anerkannt worden, und eben diese
Umstände geben mir Veranlassung, dass ich mich jetzt erdreiste, wiederum einige Betrachtungen
über denselben Gegenstand mitzutheilen.
In dem Vorhergehenden ist angedeutet worden, dass man bei der Feststellung von Charakteren
für verschiedene Völker sich vorzugsweise an die gewöhnlichsten Formverhältnisse der Schädelbildung
halten müsse. In der^Klassification, welche ich entworfen, habe ich nur zwei Formen angenommen,
nämlich die kurze,- ruridS oder viereckige, die ich die brachycephalische, und die lange, ovale, die ich
die dolichocephalische genannt habe. Bei der ersteren ist kein Unterschied zwischen der Länge und
Breite, oder ein sehr (ziemlich)2) geringer, bei der letzteren ein bedeutenderer; diese Längenverschie-
denheit beruht in den meisten Fällen auf einer geringeren oder grösseren Entwickelung hinten nach
dem Occiput, so dass dieses bei der brachycephalischen Form kurz, meistens platt oder plattgerundet,
bei der dolichocephalischen meistens lang und von den Seiten etwas zusammengedrückt ist. Die
erstere hat das Conceptaculum cerebelli mehrentheils aufsteigend, die letztere mehr horizontal.
Im Zusammenhänge.. hiermit findet man ausserdem bei der brachycephalischen Form, dass das
Conceptaculum für die hinteren Gehirnlappen das des kleinen Gehirnes kaum vollständig8) bedeckt,
da es hingegen bei der dolichocephalischen überschiessi Die brachycephalische Form hat die
Scheitelhöcker mehrentheils stark entwickelt und den hinter diesen liegenden Theil der Scheitelbeine
niederwärts abschiessend; der dolichocep*haIischen Form fehlen diese Höcker oft; die Scheitelbeine
haben' eine ebene Rundung, und ihr hinterer Theil bildet eine nach hinten gestreckte Fläche,
die sich nach dem bei diesen vorstehenden >Hinterhaüptshöcker herabsenkt. Den Brachycephalen
fehlt oft der Hinterhauptshöcker, die Dolichocephalen dagegen haben ihn stark ausgeprägt.
Die dolichocephalische Form beruht vorzugsweise auf einer grösseren Entwickelung der hinteren
Gehirnlappen nach hinten; bei der brachycephalischen sind diese kürzer, aber bei mehren Völkern
dafür mehr in der Breite entwickelt. Worauf diese verschiedenen Verhältnisse der Entwickelung
beruhen, oder was sie bedeuten, ist bei dem jetzigen Zustande der Sache schwer zu entscheiden.
Ich glaube jedoch hierbei die Aufmerksamkeit darauf lenken zu müssen, dass während des Embrvo-
Zustandes die vorderen Gehirnlappen zuerst, dann die mittleren und zuletzt die hinteren entwickelt
werden. Bei unserem Geschlechte findet man im dritten Monate die hinteren Lappen nur durch
einen kleinen Einschnitt oder Gyrus angedeutet, und noch im vierten Monate sind sie so schwach
vorgeschritten, dass man sie fast als nicht vorhanden betrachten könnte. Wie bekannt, wird während
*) In der Vorrede zu "Den Skand. Nordens Ur-invänare’y Heft. 4. ' 1843.
■) Das schwed. Orig, hat hier das Wort ’’ganska”, dessen Begriff sich im Deutschen nicht vollständig durch ein einziges Wort
wiedergeben lässt, indem es mehr bedeutet als ’’ziemlich” und wiederum weniger als ’’sehr”, welches letztere im Schwedischen
mycket” heissen würde und den Begriff verstärkt, während ’’ganska” denselben einschränkt. Dieses ist angedeutet durch die
doppelte TüTebersetzung, . Herausg.
) Durch ’’kaum vollständig” . wird, als den Begriff mehr einschränkend, das ’’knappt füllt” des Originales nicht ganz richtig
wiedergegeben j da dieses sich gleichwohl nicht ganz wörtlich übersetzen lässt, so ist die vorige deutsche Uebersetzung nichts
desto weniger beibehalten worden. ’’Nur knapp” würde ohne Zweifel diesen übrigens etwas zweideutigen und relativen
Begriff näher ausdrücken, welcher inzwischen von dem Verf. an einer andern Stelle (s. das Ende der folgenden Note) etwas
ausführlicher erklärt wird. In dem schwed. Worte ’’füllt” (nicht aber in dem deutschen ’’vollständig”) liegt ein Ueberschuss,
der jedoch durch ’’knappt” wiederum etwas eingeschränkt wird. Herausg.