seiner Ecke und bewegt sich nur, wenn man es stösst, thut dieses aber dann ganz regelmässig.
Sein Zustand ist der eines Schlafenden. Wohl gibt es noch Zeichen des Gemeingefühls von sich, es
kratzt sich mit dem Schnabel, putzt sich die Federn u. s. w., aber es frisst und säuft nicht selbstständig,
sondern die Speisen müssen ihm in den Schlund geschoben werden, worauf es ganz regelmässig
sie verschlingt und verdaut. Auf diese künstliche Weise sind Vögel Vierteljahre lang ohne
grosses Gehirn am Leben erhalten worden. Mit der Entfernung des grossen Gehirns waren ihm von
den verschiedenen Stufen des geistigen Lebens bloss noch das Gemeingefühl und dié Reizbarkeit geblieben,
die Zeichen höherer Empfindung aber, Gedanken und Gefühle, waren verschwunden. Aus
allen diesen Versuchen ergibt sich, dass im grossen Gehirn die receptive Richtung unseres Geistes
seinen Mittelpunkt hat, wie das kleine Gehirn das Centrum des bewegenden Princips war. Es
wird aber auch bestätigt durch die ärztliche Beobachtung, dass bei Lähmung der Glieder in Folge
von Encephalitis nur in dem Falle vorzüglich das Bewusstseyn sich erhält, wenn die Entzündung
nicht in den Hemisphären des grossen Gehirns, sondern im kleinen Gehirn, der Brücke oder überhaupt
dem Mesocephalum ihren Silz hat l).
Es versteht sich eigentlich von selbst, dass damit nicht gemeint ist, dass jedes der zwei Hirne
sich bloss auf die Eine der Grundkräfte des Geistes beschränkt und ihr ausschliessliches Hirnorgan
sey. Vielmehr sind beide, wie gesagt, sehr gemischte Organe. So treten in das grosse Gehirn mit
den Hirnschenkeln eine grosse Zahl m otorischer Elemente aus den Vordersträngen und besonders
den Seitenslrängen des Rückenmarkes, und finden ihr Ende oder vielmehr ihren Ursprung in den
Streifen- und Sehhügeln, von wo aus sie die Gliedmaassen zu Bewegungen auffordern. Ebenso senken
sich in das kleine Gehirn eine Anzahl entschieden sen sitiv er Fasern aus den hinteren Strängen„
der Medulla spinalis. Diese mögen hier dem niederen Gemeingefühle dienen, während sie im grossen
Gehirn mit edleren, geistigeren Empfindungen zusammenfallen, wie denn überhaupt das kleine
Gehirn mehr mit dem leiblichen Leben zusammenhängt, als das grosse, weshalb Wunden des kleinen
Gehirns auch lebensgefährlicher sind, sowie alle Verletzungen des Hinterhauptshirns. Ebenso wird
es im grossen Gehirn nicht an spontanen, strebenden Elementen fehlen, diese werden sich aber mehr
auf das Denken und die höhere Gefühlsregion beziehen, denn auch die Anstrengung beim Denken ist
ein Streben, eine centrifugale Action von dem Centrum des Hirnmantels gegen andere Theile desselben.
Vielmehr sind alle allgemeinen Kräfte, alle Urkräfte des Geistes auch allgemein verbreitet und
haben allerwärts körperliche Substrate; dem widerstreitet aber nicht, dass jede von ihnen auch noch
ein besonderes Centrum hat, was ja für andere Apparate nicht weniger gilt. Centrumbildung, Erwachen
eines centroperipherischen Gegensatzes ist überall das Zeichen einer höheren Entwickelung.
So arbeitet sich das Blut, das unseren Körper in den feinsten Strömen durchdringt, allmählig und
früher oder später herauf bis zur Herzbildung und beschliesst seine Entwickelung mit der vollkommenen
Ausbildung dieses seines Mittelpunktes, mit einem Cor duplex. So erscheint der centroperi-
pherische Gegensatz im Nervensystem als Nerven und Knoten und erreicht seine höchste Stufe mit
der Vollendung des Knotens aller Nervenknoten, mit dem Gehirn, dem Centrum aller Centra.
Ebenso schafft sich daher die m otorische Nervenkraft zuletzt ihren M ittelpunkt im kleinen,
die empfindende im grossen Gehirn und hat damit ihr Endziel, C entralität, erreicht.
Die motorischen Wirkungen des grossen Gehirns bestehen aber — ganz abgesehen von
den körperlichen, vorzüglich durch die Hirnganglien hervorgebrachten Bewegungen — in dem
Streben, das mit dem Denken verbunden ist, die des kleinen Gehirns hingegen in der Thatkraft,
in dem Streben zu Handlungen, welche sich ja durch Bewegungen des Körpers äussern. Auch
nach Wegnahme des kleinen Gehirns haben daher die Thiere noch allerhand Triebe, sie bemühen
sich aber vergebens, ihrer Ausführung den gehörigen Ausdruck zu geben, weil ihre Thatkraft zerstreut
ist, weil ihr jetzt der Mittelpunkt fehlt, wo sie sich so anhäuft, dass den verschiedenen stre-
1) L a llem a n d I. 248.
benden Regungen des grossen Gehirns der tatkräftige Nachdruck gegeben werden kann, gleichsam
der MultipUcator. Ebenso äussern die Thiere nach Wegfall des grossen Gehirns noch allerhand Gefühle,
aber sparsame und körperliche, so dass dadurch auch die Lebendigkeit der Bewegungen, die
übrigens ganz regelmässig erfolgen, sehr abgenommen hat; denn diese sind meistens Reflexbewegungen,
d. h. sie wurden vor der Yiviseotion angeregt durch Sinne und Vorstellungen. Wie ©in Blödsinniger
meist unbeweglich dasitzt, weil seine Gedanken gelähmt sind, die ihn zu Bewegungen reflecto-
risch bestimmen könnten, so auch jene verstümmelten Thiere ohne grosses Gehirn. Es sind blödsinnig
gewordene Geschöpfe.
Nach dem Vorherrschen des einen oder des anderen Gehirns reguliren sich jene Urkräfte des
Geistes. Vögel und Säugethiere haben ein verhällnissmässig grösseres Cerebellum als der Mensch.
Dort stieg es von 16 bis zu 358 des ganzen Gehirns, hier macht es nur 13* aus. Bei den Thieren
übersteigt daher die Thatkraft ihre Gedanken, ihre Thatkraft ist ohne Einsicht und artet in wilde
Begierde aus. Dagegen gibt es Menschen, denen weder geistige Receptivität, noch Einsicht mangelt,
sie haben aber nicht die Kraft, ihren wohldurchdachten Gedanken und Plänen den nöthigen motorischen
Impuls zu geben und sie auszuführen. Alle Ausführung aber oder die That besteht mehr oder
weniger in Bewegungen unserer Muskeln, mögen es die Muskeln unseres Sprachorganes oder unserer
Glieder seyn, mag die Realisirung unserer Ideen durch Rede und Geberde oder durch einen mechanischen
Angriff auf die Aussenwelt, durch Handlungen geschehen, für sich mechanische Acte, die
aber zu Thaten werden durch den Gedanken, der sie begleitet. Wenn sonach manche Menschen
ihre guten Gedanken kaum anszusprechen wagen, so gibt es wiederum andere, bei denen der erste
beste Gedanke sogleich in’s Werk gesetzt wird, mag er überlegt seyn oder nicht. Jene sind übermässig
receptive Naturen, Körper mit vorwiegendem grossen Gehirn, diese übermässig actxve Charaktere,
Naturen mit stärker entwickeltem kleinen Gehirn.
Mit dieser Ansicht ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass das kleine Gehirn noch andere Bestimmungen
hat. Sein complicirter Bau, der Gegensatz von Wurm und Hemisphären u. s. w. macht dies
vielmehr sogar wahrscheinlich. Ausser seinem Einflüsse auf die Bewegung ist hauptsächlich von verschiedener
Seite her, zuerst von G ail, sein Zusammenhang mit der Geschlechtsthäligkeit hervorgehoben
worden, weniger mit anderen Functionen. Gail, S erres u. A. führen eine ganze Reihe von
pathologischen Fällen an, wo mit Bluterguss, Entzündung, Desorganisation im kleinen Gehirn sich
geschlechtliche Abweichungen zeigten l). Dazu kommen die mannichfaohen Beobachtungen bei Vivi-
sectionen von Budge, die die Verbindung des kleinen Gehirns mit den Geschlechtsorganen noch entschiedener
zeigen. Von den zwei Bestandteilen desselben' würde als der niedere der Wurm dazu
am geeignetsten seyn, während die Hemisphären mit der Bewegung mehr Zusammenhängen möchten.
Beide Functionen haben aber natürlich ausserdem noch ihren specielleren Träger in einzelnen Abschnitten
des Rückenmarkes und des Sympathie®, ja auch Verbindungen mit dem grossen Gehirn. So vermutet
S erres, dass das kleine Gehirn mehr der Begattung, der Lendentheil des Rückenmarkes der Fruchtbarkeit,
also Eiererzeugung, diene. Die Ausbildung der Hemisphären aber läuft der erst im Menschen
erreichten Entwickelung der Gliederbewegung parallel. Ob nicht das grosse Gehirn mehr mit
den Verdauungsorganen, das kleine mit der Respiration und Herztätigkeit in Verbindung stehe, möchte
auch Oehinneer aUunf teNrsauticohnuanligtä twene rRthü cskeysinc.ht zu nehmen, von denen aber doch aus den vorn zusammengestellten
Thatsachen einiges hierher Passende beigebracht werden könnte, sehe man nur noch auf den
G escMhitl eocbhigtesru pnhtyesrisoclohgiiescdh.e r Bedeutung der zwei Hirne steht es ohne Zweifel in V.e.rb.in.dung, dass
sowohl das kleine Kind, als auch das weibliche Geschlecht ein verhäitnissmässig schwereres grosses
1) S e r r e s , A M . comparée du cereean. Paris 1827. T . II. 601. Budge, Uulerauchuugeu über das Nervensystem. Frankfurt
1841. 42. I. 160. II. 81.