In demjenigen Jahrzchcnd erreicht das Gehirn also auch seine grösste Schwere, wo die geistige
und körperliche Productionskraft ihre vollste Stärke hat. In der Tiedemann’schcn Reihe stehen
sogar die 10—20er Jahre oben an bei beiden Geschlechtern, in der Reihe von Sims wenigstens
im°männlichen Geschlecht, hei Parchappe’s Weibern dagegen die 40er Jahre. In diesen Jahren
entwickelt der Mann seine grösste Thätigkeit und schafft sich den neuen Weg, die neuen Ideen, die
er auch später verfolgt und weiter ausbildet, ohne das ihm in diesen Jahren aufgedrückte Gepräge
wesentlich zu verändern, indem vielmehr von da an die Richtung seines Lebens einen mehr stationären
Charakter hat, wenn es nicht gar schon abwärts geht.
Auf das Weib wirkt dagegen die Zeit der Schwangerschaften am meisten allgemein verändernd
ein. Inwiefern nun diese körperlich fruchtbare Zeit des weiblichen Lebens auf das Gewicht des Gehirns
ein wirke ? müsste man noch vorzüglich durch controlirende Wägungen bei den südlichen Ra<jen
eruiren, bei denen die Zeit der Fruchtbarkeit bereits mit dem zwanzigsten Jahre beendigt zu seyn
pflegt und die Weiber mit dem dreissigsten schon den Namen „alter G rossm ütter“ als einen
Ehrentitel annehmen.
Während bei den Männern von den dreissiger Jahren an die Zahlen allmälig fallen, so erhält
sich das weibliche Geschlecht bei 1272 Grammen auch in den Vierzigern und sinkt das Gewicht seines
Gehirns dagegen sehr auffallend (bis zu 1239 Grammen) in den Fünfzigern, was mit der Cessatio
menstruorum Zusammenhängen könnte.
Sehr merkwürdig ist aber seine fast coustanle Zunahme in dem höchsten Alter, wo es im
männlichen Geschlecht von 1254 Grammen bis zu 1303 Grammen, im weiblichen von 1129 Grammen
bis zu 1186 Grammen wieder in die Höhe geht. Ob dies Regel sey und das Gegentheil nur durch
die nicht so seltene Anhäufung von Hirnwasser bei sehr alten Leuten veranlasst werde, muss durch
eine grössere Anzahl von Gehirnen sehr alter Personen, als bis jetzt Vorlagen, entschieden werden.
Es lasst sich aber dieses scheinbar paradoxe Ergebniss entweder durch das zunehmende specifische
Gewicht des Hirns *) oder vielleicht auch dadurch erklären, dass Leute, die ein so hohes Alter zu
erreichen im Stande sind, auch ein in der Jugend sehr gut ausgerüstetes Nervencentrum gehabt haben
müssen. Uebrigens nehmen Desmoulins, Sims und Tiedemann eine Abnahme des Gewichts am
Hirn alter Leute an.
Das Maximum des Hirngewichts in meinen Tabellen beträgt 1500 —1600 Grammen, das Minimum
880 Grammen. Jedoch werden hier und da noch schwerere Hirne angegeben. Namentlich wirken
die Grösse der S ta tu r und die geistige Begabung oft ein. So werden als sehr schwere
Gehirne angeführt
das Gehirn von Lord Byron mit 2238 Grmm.,
— : — 4 ^ Crom well 2) — 2233 —
— — — Cuvier 1829 —
— — — Dupuytren 1436 —
welche letztere Zahl aber nur das französische Mittelmaass übersteigt, nicht das germ anische.
Parchappe gibt das grösste Gehirn seiner 159 männlichen Irren zu 1601 bis 1750 Grammen
an, das kleinste hingegen zu 1060 — 1140 Grammen, das Mittel aber zu 1368 Grammen, bei
seinen 129 weiblichen Irren hingegen das Maximum zu 1368—1496, das Minimum zu 980—1068
Grammen und das Mittel zu 1206 Grammen.
1) Welcher Vermuthung freilich die Angabe von D e sm o u lin s (D e l’état d u syst, nerveux sous ses ra p p o rts d e volum e et
d e m asse dans le Marasme non senile e t d e l'influence d e cet é ta t sur les fonctions nerveuses im Journal d e P hysique.
1820. Juin. T . 90. p . 442. 1821. F evr. T . 92. p . 165.) entgegensiebt, dass in allen Leuten nach dem 50. Jahre das Gehirn
absolut und auch um ^ ^ s p e c if is c h le ic h te r werde.
2) Dessen in Oxford noch aufbewahrler Schädel aber nicht eben gross seyn soll. Eine Anfüllung desselben mit Wasser von
4,1°C . und eine Berechnung des erhaltenen Gewichtes auf das specifische Gewicht des ganzen Gehirns würde Aufschluss darüber
gehen, ob obige Angabe eine historische Lüge sey.
Bergmann i) fand bei seinen Wägungen das schw erste männliche Gehirn zu 61 Unzen
(= 1815 Grammen) bei einem Manne von 28 Jahren ohne besondere Anlagen, das kleinste aber
zu 33 — 37 Unzen (= 982 — 1101 Grammen), das gewichtigste w e ib lic h e Gehirn dagegen zu
57 Unzen (= 1696 Grammen) bei einem Weibe von 33 Jahren mit Menslruatio swppressa, Congc-
stionen nach dem Kopfe und einem Herz von 13 Unzen, das leichteste aber wog 31—32 Unzen
(= 922 — 932 Grammen).
Man ersieht aus meiner Tabelle, dass ich hinsichtlich des Alters, in welchem das Gehirn seine
volle Schwere erreicht, weder mit der Angabe von den Wenzel*s*), H am ilton3) und Tiedemann
auf der einen Seite, noch mit Gail, Spurzheim und Sims auf der anderen übereinstimmen
kann. Wenn nach Jenen diese Zeit schon das siebente bis achte JahF ist, ja nach Somni
erring schon das d ritte Lebensjahr, so stimmen meine grösseren Reihen von Beobachtungen
damit nicht überein, ja, der von Tiedemann mit beigezogene Beweis der Gleichheit der Grösse
der Schädelhöhle in diesem Alter und beim Erwachsenen spricht gerade für das Gegentheil, weil
in diesem Alter das Gehirn noch nicht sein volles specifisches Gewicht erreicht hat, vielmehr noch
weicher ist, als später. Ist es also auch in dieser Zeit von derselben Grösse, wie beim Erwachsenen,
so folgt, dass es bei seiner geringeren specifischen Schwere auch ein geringeres absolutes
Gewicht haben muss. Zuerst entwickelt sich also sein volles Volum, in weit späterer Zeit
aber sein volles Gewicht. WM
Wenn ferner die letztereiiiBeobachter dieses vollkommene Gewicht in die V ierziger Jahre
setzen, so ergiebt sich dies doch nach meiner Tabelle der Weiber auch schon für die Dreissiger
und in der Tabelle der Männer nur für die dreissiger Jahre.
Dass mannichfache Ausnahmen Vorkommen werden, erhellt schon aus der Verschiedenheit der
Ansichten gründlicher Beobachter. Es gilt nur hier, die Regel aus der grössten Zahl bisheriger Wägungen
abzuleiten. Diese Regel gilt aber vielleicht auch nur für bestimmte Nationalitäten. Die ganze
Anthropologie ist aber noch eine terra incognila!
Der Satz ist jedoch im Allgemeinen richtig, dass ceteris paribus grösserer Umfang und Schwere
des gesunden Gehirns auf eine grössere Vollkommenheit desselben, auf eine grössere psychische Entwickelung
hinweisen.
Wenn Bergmann das Hirn eines 54jährigen Idioten 48 Unzen (= 1428 Grammen) und eines
Einfältigen sogar 59 Unzen (= 1755 Grammen) schwer fand, und wenn ähnliche Beispiele auch von
Anderen vorliegen, so weiss man, was Congestionen, Exsudate, Verhärtung und dergleichen für Wirkungen
auf das specifische Gewicht des Gehirns, und folglich auch auf dessen absolutes Gewicht machen
können, und dass von vielen Anderen das Gegentheil gesehen wurde, so von Sims bei einem
Idioten von 50 Jahren ein Gewicht des Gehirns von 1 Pf. 8 Unz. 4 Dr. (= 687,5 Grmm.), bei einem
von 40 Jahren 1 Pf. 11 Unz. 4 Dr. (= 772,5 Grmm.), bei einer Idiotin von 12 Jahren 2 Pf. 3 Unz.
4 Dr. (= 999 Grmm.) und einer 16jährigen Idiotin ebenfalls 999 Grmm. und so noch in einer Menge
von Beispielen Blödsinniger von L eu ret, Tiedemann, E squirol, Haslam, Gail, Pinel, wo das
Gewicht oft noch tiefer, selbst bis zu 500 Grmm., herunter ging. Niemand wird ferner behaupten, dass
die Grösse auch des gesunden Gehirns der alleinige Maassstab sey, vielmehr, wenn ich auch die verschiedene
Bedeutung der einzelnen Hirnmassen hier nicht in Anschlag bringen will, die Textur des Hirns eine
1) B e rg m a n n in der Zeitschrift fur Psychialrie von D am e ro w . 1853.
2 ) l. c. p . 254: S ep tim o v ita e anno increm entum hum ani cerebri turn in to to , turn singulis in p a rtib u s su is consummatum
ja m et absolution est. f i x ig itu r corpus hum anum universim spectatum m agnitudinis suae dim idium a ttig it, cum cerebri
m a g n itu d e s sum m um gradum superavit uud p . 266; Secundum nostras o b se rv a tio n s nonnisi in s e p t e m annorum
in fan tes congruit (sc. Soem m erringii dogm a). Die eigenen Maasse von den W e n z e l’s zeigen aber das Gegentbeil.
3) l. c. p . 4.
4) a. a. 0 . S. 10.
5) T ab. B aseos E n cep h a li p . 13.