Viertes Kapitel.
Verlauf der Hirntlieile vom Rückenmark durch das Gehirn.
Um nun die Windungen, diese für die psychischen Thätigkeiten so wichtigen Organe, physiologisch
einlkeilen und ihre Geschlechts- oder National-Eigenthümlichkeiten gehörig beurtheilen zu können,
müssen wir vor Allem ihre Entstehung aus ihrem Zusammenhänge mit dem Prolotypus des Gehirns,
mit dem Rückenmark und seinen Strängen darzulegen uns bestreben, weil wir in diesem letzten einen
physiologisch schon mehr geebneten Boden haben, worauf wir auch das physiologisch-psychologische
Gebäude des Hirns gründen und aulführen können.
Wir wissen, dass das Rückenmark sich im verlängerten Mark aufschliesst und entfaltet. Alle
Primitivfasern des ganzen Körpers laufen hier zusammen, um an verschiedenen Stellen des Hirns in
einem grauen Kerne ihr Ende oder vielmehr ihren Ursprungsort zif finden. Dies kann allerdings ohne
Unterbrechung der Fasern vielfach nicht geschehen, denn wenn es wahr ist, dass
1) alle Leitung nur durch Primitivfasern geschieht,
Ä) keine Primilivfaser mehr empfindet oder bewegt, deren Verbindung mit dem Hirn unterbrochen
ist,
3) keine Primilivfaser sich theilt, sondern alle mit zarten Wurzeln (radiculae inferentes) in Ganglienkugeln
beginnen,
4) eine Zahl Primitivfasem auch aus den Ganglienkugeln des Rüokenmarks und der Knoten entspringen,
5) das verlängerte Mark aber zu dünn ist, um sämmtliche, wenn auch verdünnte Primitivfasern
des Körpers enthalten zu können,
so scheint der Schluss unabweislich, dass bis zum verlängerten Mark herauf noch eine Vereinfachung
und Concentration der Primilivfasern durch vielstrahlige Ganglienkugeln einlritt in der Weise, dass
eine solche Kugel viele eintretende Wurzeln (radiculae inferentes s. periphericae) hat und weniger
oder nur Eine au stretende, centrale (radic. efferentes s. centrales) und dadurch ganze Gruppen
von Muskelfasern oder ganze Parlieen empfindender Haulflächen an Eine einzige Ganglienkugel des
Gehirns gekettet werden, wodurch allein viele Erscheinungen, z. B. die.Weber’schen Tastversuche
mit einem aufgesetzten Zirkel und die Zusammenziehung ganzer Muskeln, ihre anatomische Erklärung
erhalten. Durch die Brücke setzt sich die so entstandene Masse in das grosse Gehirn weiter
fort und wird auf diesem Wege durch graue Massen und daraus entspringende neue Markbünde] verstärkt.
Alle seine Theile trennen und kreuzen und verbinden sich wieder zu neuen Combinationen
auf die mannichfalligste Weise. Was unlen lag, erhebt sich, was an der Seile lag, tritt gegen die
Mittellinie oder über sie hinaus auf die andere Seite, was vorn lag, geht rückwärts, was hinten, vorwärts.
Es entwickelt, wie ein Heer in der Schlacht, seine Massen, ohne an Einheit des Planes zu
verlieren und sich zu zersplittern. Es gliedert sich nur unaufhörlich und macht gleichsam Evolutionen,
in die entstandenen Lücken rücken neue frische Truppen ein und Alles, in verschiedenen Richtungen
aus einander getreten, verbindet sich mit einander in anderen Verhältnissen zu gemischten Trup-
penkörpem. Was also für das Gefüge der Nervenknoten, was für die Hirnnerven und ihren Verlauf
güt, findet in noch höherem Grade im Centralorgan selbst Statt. Wie fast alle Nerven gemischte
sind, wie ihre Fasern, selbst während ihres Verlaufes, unaufhörlich gemischt werden, wie die Ner-
vengeflechle keinen anderen Zweck haben, so auch die Organe des Gehirns selbst.
Verfolgen wir aber die einzelnen Elemente des Rückenmarkes (graue Commissur, Flügel,
w eisse Commissur, vordere, seitliche, hintere S tränge) auf ihren Irrwegen durch das
Gehirn einzeln etwas näher!
1) Die graue Commissur des Rückenmarkes mit dem von ihr eingeschlossenen R ücken-
m arkskanale tritt zwischen den aus einander weichenden Hintersträngen (strangförmigen Körpern)
an die Oberfläche, breitet sich am Hinterhauptshirn in dessen Höhle (Vierter Hirnhöhle) als deren
grauer Ueberzug aus, setzt ihren Weg als grauer Ring der W asserleitung durch die Vierhügelmasse
fort und zieht sich als das Grau der dritten H irnhöhle vorwärts, wo ihr, wie an der
vierten Hirnhöhle, wiederum die graue Decke fehlt oder nur theilweis erscheint als weiche Commissur
und als Zirbel. Von da setzt sie sich in gerader Richtung fort in die Höhle der S cheidewand
(septum lucidum), deren graue, innere Blätter sie bildet, um an deren vorderen Ende,
hinter dem Knie des Balkens, zu enden. Der Hauptzug hingegen, der den Boden der dritten Hirnhöhle
gebildet hatte und als grauer Hügel (Tuber cinereum) bereits an der unteren Oberfläche des
Gehirns hervorgebrochen war, krümmt sich abwärts und stellt T richter und Hirnanhang dar.
In diesem letzten aber erscheint wiederum eine graue Decke des Kanals, und Decke und Boden treten
scharf aus einander, indem jene als vorderer, grosser, ovaler Lappen, dieser als der kleine, runde,
hintere Lappen sich darstellt, jener dem hinteren, dieser dem vorderen grauen Kernstrange entsprechend.
Zwischen beiden findet sich daher noch bei den Säugethieren (Wiederkäuern, Schweinen
u. s. w.) ein mit gallertartiger Flüssigkeit gefüllter Raum (Ventrieulus sexius s. Hypophyseos).
Hiermit aber endet der Rückenmarkskanal blind und nach Analogie der Schädelwirbelsäule gekrümmt
auf dem Körperlos zweiten Schädelwirbels.
2) Die grauen Flügel des Rückenmarkes werden im verlängerten Marke nicht mehr durch
die graue Commissur zu einem Kreuze zusammengehalten, sondern trennen sich als abgesonderte
graue Inseln, die vorderen als gezahnte O livenkerne und O livennebenkerne (S till.) und
später als die schw arze Substanz der Hirnschenkel, die sich weiterhin in den Sehhügeln in zwei
bisher in der Mitte verbundene, vollkommen getrennte Hälften spaltet, die hinteren Flügel aber
als graue Substanz der strangförmigen Körper und im kleinen Gehirn als gezahnter Körper {Corpus
denlalus), welcher deshalb in ununterbrochener Verbindung mit dem grauen Ueberzuge der vierten
Hirnhöhle bei den Säugethieren steht. Dem Wirbeltypus entsprechend, erscheinen sie hieraul als
die paarigen grauen Massen der Vierhügel. In Sehhügeln und Streifenhügeln concentriren sich noch
einmal die vorderen grauen Flügel, die hinteren aber breiten sich an der Oberfläche als Rinde
beider Gehirne aus, welche dadurch, dass die graue Substanz jetzt an der Oberfläche erscheint, das
Ansehen einer völlig neuen granen Masse erhält, die vorher gar nicht dagewesen zu seyn den Schein
erzeugt, wenn nicht nach Analogie der Vierhügel auch die Sehhügel und Streifenhügel die Bedeutung
hinterer Flügel haben und das peripherische Grau der Rinde nur eine zweite, aufgesetzte neue Schicht
derselben hinteren oder der vorderen Flügel ist, was gleich viel Wahrscheinlichkeit hat und eine zoo-
tomische Untersuchung bedarf.
Zugleich vergrössern sich diese grauen Ganglienmassen von hinten nach vorn und treten immer
symmetrisch gespaltener aus einander. Die kleinsten sind die hinteren Vierhügel und die grössten die
Streifenhügel. Noch Eine einzige Masse machen die Vierhügel aus, obwohl sie schon gelheilter sind,
als der hinter ihnen liegende Wurm. Die Sehhügel sind nur noch durch die weiche Commissur schwach
verbunden, die Slreifenhügel endlich haben sich vollkommen von einander getrennt und sind in jeder
Art die vollendetsten dieser Hirnganglien. Sie haben keinen Mittelpunkt mehr, wovon sie ausgingen,
wie jene Hirnlheüe, haben aber ausserdem vor ihnen die Gegenwart einer ächten Commissur voraus
(die vordere Commissur); denn weder die weiche noch die hintere Commissur sind wirkliche
Commissuren, vielmehr indifferente Mittelpunkte, nach der Art des Wurms.
Zugleich biegen sich die Sehhügel und Streifenhügel ebenfalls nach unten ringartig um. Wenn
dies in der Mittellinie gemäss der verwandten, hirtenstabähnlichen Umkrümmung der Schädelwirbcl
Trichter und Hirnanhang thaten, so an der Seite und nach der Seite abwärts jene beiden Hügel
sammt dem Hornstreif, welche sich alle in das absteigende Horn der Seitenhöhle verlieren.
Die Streifenhügel aber gehen dem Stirnwirbel, die Vierhügel und die aus ihnen hervorwachsen-
den Sehhügcl dem Zwischenscheitel- und Scheitelwirbel parallel.
3) Die w eisse Commissur wird an dem Markknopfe durch die als Pyramiden sich an die
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