fallen mir die „Bilder aus dem Thierleben von C. V ogt“ in die Hände, welche in unserer Streitfrage
als neuestes Muster dienen können. »Wie die Function eines Muskels Zusammenziehung ist,“ heisst
es darin, „wie die Niere Harn absondert und der Magen verdaut, auf gleiche Weise erzeugt das
Hirn seine Gedanken, Bestrebungen, Gefühle.“ Wer erkennt nicht, dass dieses Gleichniss die bekannte
Logik vom grimmigen Löwen enthält und dem neuen Leben, in dem wir wandeln sollen. Auch das
Gehirn hat ja seine körperliche Function. Sie hätte mit der Verdauung oder Gallenabsonderung
verglichen werden müssen, statt dass hier auf ein fremdes wissenschaftliches Gebiet übergesprungen
wird und ganz entgegengesetzte Dinge, Gedanke und Absonderung in die Verbindung der Gleichheit
gebracht und zusämmengeworfen werden. Vielmehr würde das Gleichniss nach gesunder Logik
also lauten müssen: Wie Niere, Magen und Muskel ihren chemisch-elektrischen Prozess, d. h. ihre
Absonderung, Verdauung, Zusammenziehung haben, so erzeugt auch das Hirn seinen eigentümlichen
N ervenelectricism us.
Nicht anders geht es der Seele bei den Materialisten! Die Seele ist ihnen lediglich ein Collectiv-
begriff, ein Collectivname von Nervenprozessen, also nicht viel mehr, als ein Kehrichthaufen, der
ebenso aus einander stäubt, wie er zusammengekehrt worden ist, dem das Band organischer Entwickelung
aus einer realen Einheit mangelt.
Zwei Geister bekämpfen sich in der Wissenschaft, wie im Leben, der zersetzende und der bildende.
Jener duldet kaum Conglomerate, Alles ist ihm vielmehr eine V ielheit, und die Einheit
hinkt höchstens, hinter den Wagen gespannt, hinterdrein als Collectiv. Dieser umgekehrt geht
gerade von der Einheit aus und alles Andere ist ihm Blatt und Blüthe Eines lebendigen Stammes.
In der Physiologie können diese Gegner in der Natur das Princip der C ausalität und der E n twickelung
heissen. Dort ist unser Leben nicht nur ein von aussen erzwungener Zustand (Brown),
sondern sogar ein Haufen, eine Fusion äusserer, physikalischer Prozesse, die sich zu unserem Leibe
zusammengefunden haben, hier ist es eine nothwendige Entwickelung von Innen heraus, und die
äusseren Potenzen werden benutzt, um die Idee des Ganzen in seinen Erscheinungen darzustellen.
In der Naturwissenschaft tritt uns jenes Princip entgegen als der Materialismus unserer Zeit. Er vergöttert
die Natur nur insoweit, als sie zerfallen ist und warnt vor jeder höheren, allgemeineren Auffassung,
indem er seinen Erbfeinden, Aesthelik und Theologie, Vorschub zu leisten befürchtet. Ein
Ragout ist ihm lieber als ein Apollo!
Weder die Seele, noch auch die geschmähte Lebenskraft sind Collectivnamen, ja auch selbst
nicht Summen, Resultanten aller einzelnen körperlichen Thätigkeiten, sondern eben jenes schaffende
Princip, jene reale Kraft des Ganzen, die sie zusammenhäll, wie es sie erzeugt hat. Nehmt sie
hinweg, so zerfallen Thiere und Pflanzen in Bewegungen ohne Substanz und Einheit. Vielmehr ist
unser körperliches und geistiges Leben die allmählig hervortretende und sich entfallende Idee unseres
Ich, die Nervenprocesse aber sind die treuen B egleiter seiner Gedanken, Gefühle und Strebungen
und weder Producte, noch Ursachen derselben.
Aus Nervenströmungen wird weder Gedanke noch Empfindung erklärt und eben so wenig erzeugt.
Wir verfolgen die Bewegung des Lichtstrahles durch unser Auge bis zur Netzhaut. Hier pflegen wir
den logischen Faden kurz abzureissen und sagen: Hier, auf der Nervenhaut des Auges, entsteht uns
das farbige Bild des Gegenstandes, das ja eben schon ein Element der Empfindung ist. Wir überspringen
die unübersteigliche Kluft zwischen Körper und Geist und versetzen uns, indem wir den Knoten
durchhauen, plötzlich auf den geistigen Boden. Wir haben es dann freilich leicht, weiter zu
gehen und uns auf dem usurpirlen Gebiete wohnlich einzurichten, indem wir vom Bilde zur Vorstellung
und von da zum Begriff und zur Idee fortschreiten. Logischerweise dürften wir nur sagen: Die
elektrischen Bewegungen des Lichläthers pflanzen sich Von der Netzhaut fort durch die Fasern des
Sehnerven zu den Sehnervenhügeln des Gehirns und weiter, modificirt oder nicht, sie behalten aber
auf diesem Wege immer ihre räumliche, körperliche Natur.
Wenn die Empfindungen also keineswegs aus Nervenprozessen entstehen, so entsprechen
sie ihnen wohl. Unsere Gedanken stehen in keinem ursächlichen Verhältnisse zu den Hirnfunctio-
nen, sind weder sie selbst — weil das Hirn dann zweierlei Functionen haben würde, wie kein anderes
Organ (nach der gewöhnlichen Annahme]) — noch ihre Producte, nicht die ätherischen Ausflüsse der
Materie überhaupt, sondern sie sind ihre nothwendigen B egleiter. Was mit einander entsteht, ist
eben nicht durch einander. Wie etwa die Farbe sich verhält zu den Lichtschwingungen, der Schall
zu den Schwingungen elastischer Flüssigkeiten, so der Gedanke zu den neuroelektrischen Oscillationen
der Hirnfasern. Farben oder Töne und die damit genau zusammenhängenden Schwingungen sind
gleichzeitige Phänomene. Jene entstehen nicht, nachdem so und so viel Schwingungen in der
Sekunde eingetreten sind, sondern sie sind mit ihnen gleichzeitig gegeben. Kein denkender Optiker
wird behaupten wollen, dass Violet aus 257 Millionen Aetherschwingungen entsteht, kein Akustiker,
dass das grosse C erst entsteht, nachdem seine 66 Luflschwingungen gegeben sind, sie erscheinen
vielmehr zugleich mit ihnen. Es sind Zustände, die mit einander kommen und gehen und folglich
nicht Ursache und Wirkung, weil diese ein Nacheinander, kein Miteinander bedingen, und lassen
sich daher auch nicht aus einander ursächlich erklären. Die Farben sind gleichsam die geistigen Axiome
des Lichts, die wohl eine Parallelisirung mit jenen Zahlenverhältnissen und eine Vergleichung unter
sich zulassen, aber keiner weiteren Erklärung fähig sind. Ueberhaupt hat jedes Ding seine mathematische
und seine ästhetische Seite. Jenes ist die natürliche, dieses die geistige. Dort herrscht Bewegung,
hier geselzmässige Veränderung. Eine allein erfasst nur die Hälfte des Gegenstandes.
Wenn daher eine Art Materialismus sogar behauptet: die Farbe ist eine Anzahl Aetherschwingungen,
so wirft er uns damit einen Knochen vor die Füsse, seine Farben sind nur Gerippe ohne Fleisch! —
Wie die Farbe aber, so der Gedanke. Er ist begleitet von einer Nervenbewegung, en tsteh
t aber nicht aus ihr, er ist also auch nicht die Folge ihrer körperlichen Thätigkeit, nicht die
F unction, ja selbst nicht die E igenschaft des Gehirns, sondern ihr ästhetischer Begleiter. Unsere
Gedanken und Gefühle sind, wie das Gehirn selbst, wohl Eigenschaften, Verrichtungen unserer
S eele (als Einheitsprincip), wie das Gehirn und seine Bewegungen auch, aber nicht die Resultate
der H irnthätigkeiten, und finden in diesem also wohl die nothwendigen gleichzeitigen Bedingungen,
aber nicht die Gründe oder Ursachen ihrer Existenz.
Der Zusammenhang beider ist darum aber statt lockerer, nur um so inniger, wenn auch nicht
auf die vom Materialismus behauptete Art, insofern sie nicht nur mit einander kommen und gehen,
sondern auch einander entsprechen, gleichwie eine bestimmte Farbe einer bestimmten Wellenlänge der
Aetherbewegung genau correspondirt. Wie Zeit und Raum mit einander exisliren, ohne in einander
überzugehen oder auf einander zu wirken, wie sie unauflöslich verschmolzen sind, so dass dieser ohne
jene gar nicht zu denken ist, so Geist und Körper, Gedanke und Hirnbewegung. Ihr Flechtwerk ist
so innig, dass zu jedem Gefühle, zu jedem Bilde, zu jeder Idee eine Reihe Fibern gleichsam zuckt,
ohne aber von ihnen angeregt worden, oder umgekehrt, etwa ihre Ursache zu seyn. Ja, wir nehmen
auch so wenig die neuro - elektrischen Bewegungen unseres Hirnes wahr beim Empfinden und
Denken, als die Erzitterungen des Lichtäthers, die eine Farbe begleiten. Die Farbe selbst aber ist
nicht Product unseres Geistes, sondern das geistige Element des Lichtes, das Objectiv-Geistige, das
in ursächliches Verhältniss zu der Farbenerscheinung unseres eigenen Geistes tritt. Leugnen wir
nämlich die Objectivität der Farbe, so müssen wir auch folgerichtig die des Schalles und aller anderen
Sinneserscheinungen in Abrede stellen und wiederum folglich die Existenz der ganzen Natur, welche
ja nur auf den sinnlichen Erscheinungen beruht. Selbst die ganze Raumwelt und Bewegung mit {ihren
Gesetzen wären dann ein blosses Hirngespinst, da jede Formvorstellung auf Licht und folglich auf
Farben beruht.
Mit dieser Ansicht über die Verbindung des Körpers und Geistes brechen wir die Brücke ab
zwischen uns und dem Materialismus, aber auch die Brücke zu der althergebrachten, mehr spirituali-
stischen Meinung, dass Geist und Materie, Gedanke und Naturerscheinung total fremde Gebiete seyen
in dem Grade, dass unsere Gedanken den Körper nur als Instrument benutzen, um sich in Thaten
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