Welche nachteilige Wirkung auf die Brücke das jugendliche Alter, das weibliche Geschlecht
und die C astration ausüben, ersieht man aus dem Lamme im Vergleich zum Schafe
und Schafbocke, aus dem Caslrat der K atze, dem Hammel und dem W allach, welche alle
um 1 - 3 Procent zurückstehen vor den männlichen Thieren derselben Gattung. Noch auffallender
würde dies aber seyn, wenn ich den Vergleich mit dem Wurm allein angestellf hätte. Merkwürdig
ist auch ihr bedeutendes Verhältniss bei der Fischotter, wo es beim Vergleich der Brücke mit
dem verlängerten Mark sogar auf 52$ steigt, während die anderen Thiere es nur zu 30 — 36$
bringen.
Wahrscheinlich existiren noch manche feinere Alters-, Geschlechts- und Ra^enversohiedenheiten
im Bezirke des H interhauptshirns, wie namentlich zwischen der oberen und unteren Hälfte des
Cerebellum, den .einzelnen Lappen desselben, den Abtheilungen des verengerten Markes u. s. w., die
Untersuchungen werden aber immer schwieriger, je mehr man in diese subtileren Verhältnisse ein-
dringen will, der Weg immer unsicherer und ungebahnter, eine grosse Zahl von Beobachtungen an
den passendsten Objecten immer nothwendiger. Billige und sachverständige Richter werden darin mit
mir übereinslimmen und das Weitere von der Zukunft fordern. Um mit Erfolg auf der eröffneten
Bahn fortschreiten zu können, bedarf es vor Allem einer genaueren Kenntniss von der zootomischen
und anthropotomischen Anordnung der einzelnen Theile des Wurms und der Hemisphären. Ich will
vor der Hand wenigstens in dem Folgenden eine Entdeckung über ein anatomisches Princip dieser Anordnung
hier niederlegen, um für spätere Untersuchungen eine natürliche Basis gewonnen und Anderen
vorbereitet zu haben.
Viertes Kapitel.
Ueber das natürliche anatomische Princip der Lappen des Cerebellum.
Seitdem man die Elementartheile der Nervensubstanz kennen gelernt hat, N ervenkörper und
Primitivfasern, ist die Aufmerksamkeit der Physiologen in weit höherem Grade wieder auf die graue
Substanz gelenkt worden, als in früherer Zeit, wo sie der Marksubslanz an physiologischem Werth
selbst nachgestellt, als eine unentwickelte Medullarsubstanz und der Ueberrest einer früheren Lebensperiode,
in der noch das ganze Hirn wegen seiner durchaus graulichen Farbe lediglich aus grauer
Substanz zu bestehen schien, oder als Ernährungsmasse' des Gehirns angesehen werden. Jedoch
hatten viele ausgezeichnete Encephalotomen ihre höhere Bedeutung wohl gefühlt und zum Theil ihre
psychische Wichtigkeit hervorgehoben, wie früher E rasistratus, V esalt), Willis*), Malpighiä),
Boerhave*), Ludwigä), H aller«), Mayer?), Ackermann«) bis auf Reil»), Nasse, T re-
1) V e s a l i i O p p . omnia p . 781. G a le n leugnete den Einfiass der Windungen auf das Denken gegen E r a s i s tr a t u s : n Quum
asini etiam adm odum m ultip liciter cerebrum habent com plexum , quas d eceret, quantum a d m orum ru d ita tem a ttin et omni-
fariatn S im p le x, e t m inim e varium nancisci cerebrum . M elius autem a rb iträ retu r bonae substantiae tem periem corporis
intelligentis (quodeunq. hoc fu e r it) prudentiam sequi e t non varietatem com positionis. V e sa l sucht die Bestimmung der
Windungen lediglich darin, dass durch ihre E rtra g das Blut tiefer in das Innere des Gehirns eindringen und dasselbe vollkommener
ernähren könne, sah also in ihnen nur M itte l d e r E rn ä h ru n g .
2 ) D e anim a c. X . und A n a t. cerebn p . 93.
3) O pp. p . 85.
4 ) Im pe tu m fa c . d ict. Ilip p o cr. p . 84.
5) C inerea cerebri subst. p . 82.
6 ) E iern, p h y s. p . 392.
7) Beschreibung des Nervensystems S. 87.
8) ’ N ervi septem p rim . p . 98.
• 9) Archiv Bd. IX . S. 485.
vir an us*) u. A., neuerdings aber namentlich Alb er s 2). Man erkannte wegen ihrer Zusammensetzung
aus Ganglienzellen, die so nirgends Vorkommen und durch ihren Pigmcnlinhalt ihr die
eigenthümliche graue Färbung ertheilen, in ihr die C entralsubstanz, in welcher die spontanen
Kräfte des Hirns ihren Sitz haben, im Gegensatz zu der peripherischen, der Medullarsubstanz,
welche, aus den Primitivfasern zusammengesetzt, wie sie, die leitende Substanz ist.
Was im Grossen schon angenommen war, bestätigte und befestigte nun auch die Geweblehre in den
Molecülen. K noten, graue Substanz und Ganglienkugeln sind die drei Gradationen der
C entralorgane, wie Nerven, M arksubstanz und Prim itivfäden die drei Glieder der peripherischen
Nervenmasse.
Am wenigsten hat aber unter den zweierlei Anhäufungen grauer Substanz im Gehirn die verdiente
Würdigung die Rinden Substanz erhalten, ungeachtet schon Gail seine psychischen Organe in die
Windungen verlegte. Die psychologische Vagheit der Gail’sehen Organenlehre, welche bei den Erhabenheiten
des Gehäuses stehen blieb, statt den individuellen Verschiedenheiten der eingeschlossenen
Hirnorgane selbst nachzuspüren, die Unregelmässigkeit der Anordnung der Windungen, ihre grosse
Zahl, die Schwierigkeit, sie in ein wissenschaftlich und natürlich geordnetes System zusammenzufassen
— Alles dieses hat die Untersuchung von dem Chaos der menschlichen Windungen ab- und
den freilich schöneren und regelmässigeren, aber gewiss auch psychisch unwichtigeren Gestalten der
Hirnganglien, den Commissuren und Hirnschenkelsystem zugewendet.
In nachstehenden Beobachtungen liefere auch ich einige Bausteine zu einem System e der
Wind ungen des kleinen und des grossen Gehirns.
Am kleinen Gehirn erkannte man zuerst die faserige und blätterige Structur Quelle B oe). Nachdem
Malacarne und Pourfour P e tit hierauf die einzelnen Blätter seiner Windungen mit eisernem
Fleisse gezählt, eine grössere Zahl von Lappen angenommen und den Unterschied von Lappen,
Läppchen, Blättern und Lamellen aufgestellt hatten, hat vor Allen Reil es zum Gegenstände seiner
eben so geistreichen als gründlichen Untersuchungen gemacht und es in unübertroffenen Zeichnungen dargestellt.
S erres hat auf den Gegensatz von Wurm und Hemisphären in den Säugethieren aufmerksam
gemacht, und Burdach, Arnold u. A. den Verlauf der Schenkel, der Belegungsmasse u. s. w.
aufgeklärt.
R eil ging, um die Zahl der Lappen des kleinen Gehirns natürlich zu bestimmen, von der verschiedenen
Tiefe der Einschnitte aus. Die tieferen Einschnitte deuteten ihm mit Recht die Hauptabtheilungen
(L appen}, die flacheren aber nur die Unterabtheilungen (Läppchen und B lätter} an.
So natürlich und richtig dies auch ist, so ist es doch immer ein rein empirischer Weg. Die vergleichende
Anatomie führt uns sicherer und weiter, bis zum anatomischen Princip, welches Reil
nicht geahnt hat, weil er nicht den vergleichend-anatomischen, genetischen Weg einschlug und jedenfalls
die Thierhirne nur nebenbei betrachtete. Er spricht zwar vom kleinen Gehirn des Hasen, Schafes,
Rindes und Pferdes, nennt es aber ein starkes Convolut von unregelmässigen Ansätzen und beweist
damit, dass er die Ordnung dieser Ansätze, die so viel Licht auf den menschlichen Bau werfen,
nicht erkannt hat.
Am kleinen Gehirn der Herbivoren wie Carnivoren scheiden sich sehr scharf zwei Hälften. Der
Einen Hälfte gehört das Züngelchen ßingula), der Centrallappen nebst Flügeln ßobus centralis)
und der Berg ßUonticulus) sammt dem viereckigen Lappen ßobus quadrangularis), der Anderen die
übrigen bekannten Lappen des Wurms und der Hemisphären an, und beide Hälften stehen im Gegensatz
der Entwickelung und ihres übrigen Verhaltens zu einander.
Am merkwürdigsten und eigenlhümlichsten ist die letztere Hälfte.
1) Biologie Bd. 6. S. 166.
2) Deutsche Klinik 1852. S. 42.