Die bisherigen Messungen bestanden lediglich entweder in geradlinigen Maassen des ganzen
Schädels oder einzelner Gegenden desselben, oder es wurde der körperliche Inhalt der gesammlen
Schädelhöhle gemessen, wie die Wägungen und Messungen von Tiedemann, Morton u. A. thaten.
Ich habe nun nicht nur die Stellen der Basis cranii in’s Auge gefasst, von welchen man mit Sicherheit
die ihnen beständig anliegenden Hirntheile kennt, sondern auch neue Methoden für eine F lächenmessung
und kubische Messung in Anwendung gebracht.
Bei Untersuchung der verschiedenen Schädel hielt ich mich an das nächste Object, das auf eine
allgemeine Betrachtung des gesammten Schädels folgen muss, an die grossen B ezirke desselben,
und habe durch jene Methoden ihren gegenseitigen Werth genau erörtert. Ich legte zugleich dabei
die Wirbellheorie des Schädels zum Grunde, das Fundament Oken’s, an welches sich seit 45 Jahren
so mancher neue und wahre Gedanke über die Bedeutung der Organe des Kopfes ankrystallisirt
hat. Mögen diese Zeilen jene Lehre in der Richtung erweitern, um von ihr aus zum Hirn und zu
seinen Thätigkeiten fortschreiten zu können. Es genügte hierbei nicht, den Durchmesser des Schädels
zu bestimmen, oder, wie die Gail’sehe Schule es gewöhnlich that, zu sagen, diese Schädelgegend
sey gross, jene klein, sondern es musste» K örper, Bögen, D ornfortsätze jedes Schädel Wirbels
genau gemessen und diese Maasse durch Berechnung verglichen werden.
E rster Abschnitt.
Lineare Messungen des Schädels.
I. Von dem Verhältniss der Körper der einzelnen Schädelwirbel zu einander.
A. B e i vers chied enen la u g e t liie ren nnd im E rwa chsenen.
In der Regel sind die Körper der drei Schädelwirbel bei den Säugethieren längere Zeit durch
Interverlebralknorpel oder durch Suturen von einander getrennt und setzen daher der Messung ihrer
Länge mit dem Zirkel meistenlheils keine erheblichen Schwierigkeiten entgegen. Bei einzelnen Gattungen
aber und bei älteren Exemplaren kann man oft die Stelle der Synostose noch an einem rauhen
Vorsprunge des Knochens erkennen, beim Menschen hingegen muss man junge Körper wählen.
Am leichtesten ist es, die Länge des ersten und des zw eiten Wirbelkörpers zu messen, viel
schwieriger ist es am dritten, weil dieser auch bei den Thieren dergestalt vom Pflugscharbein bedeckt
ist, dass man seine Länge nur durch Aufopferung des Schädels und auch dann nicht immer erörtern
kann. Am Menschenschädel ist sogar schon der zw eite Schädel wirbelkörper dermaassen von
den Flügeln des Pflugschars verdeckt, dass nur noch beim Kinde die Grenze zwischen ihm und dem
dritten scharf genug hervorlrilt, um ein sicheres Maass nehmen zu können.
Bei einer solchen Untersuchung hat sich nebenbei das Gesetz herausgeslellt:
dass das Pflugscharbein mit seinen Flügeln im D urchschnitt um so mehr
rückw ärts tritt und sich ausdehnt, als das S äugelhicr höher im Range
steht.
So deckt im Hasen der Vomer nicht einmal die untere Fläche des Körpers vom d ritten Schädelwirbel,
beim Luchs nur ein D rittel desselben, beim S chaf zwei D rittel, beim Schwein
nur den halben zweiten Wirbelkörper, beim Affen (jungem?) nur ein Drittel des zw eiten, und
beim Menschen endlich deckt er mit seinen Flügeln diesen Wirbelkörper so gut wie ganz und rückt
also am Ende der Thierreihe bis in die Nähe des Intervertcbralknorpels zwischen erstem und zweitem
Wirbelkörper zurück.
Nicht anders ist cs aber auch im Laufe der menschlichen Entwickelung. Beim Ncugcborncn,
ja noch am einjährigen Kinde, liegen die Alae Vomeris nur auf dem vordersten Theilc der unteren
Fläche vom Keilbeinkörper ([d. b. sie decken gerade den Körper des drillen Schädel Wirbels), und
cs liegt der grösste Theii des Keilbeinkörpers frei und unbedeckt. Allmälig, aber wachsen die Flügel
des Pflugschars immer mehr rückwärts und gelangen endlich im zwanzigsten Jahre an den Inlcrvcr-
tebralknorpcl zwischen dem Hinterhaupt- und Scheitelwirbel oder in eine gleiche Ebene mit dem hinteren
Rande von der Wurzel der Ala inlemaprocessus pterygoidei, wo sie endlich stellen bleiben.
Beim Erwachsenen entspricht das hintere Ende der Flügel des Pflugscharbeins dem hinteren Ende
des processus vaginalis dieses Flügelforlsalz’e's, beim Kinde hingegen fangen die Flügel viel entfernter,
von jenem hinteren Ende an.
Diese merkwürdige Orts Veränderung des Vomer hängt zusammen
1) mit der allmäligen Verlängerung der Nasenhöhle und des Gaumens nach hinten. Wie
die Enlwickelungsgeschiclite zeigt', entstehen beide durch Hereinwachsen der Anfangs runden Nasengrube,
welche sich in eine Furche auszieht, in die Mundhöhle herein, vermittelst eines Halbkanals, der
sich bald schliesst und nur an seinen Enden oflen bleibt. Die Choanen liegen deshalb beim Embryo
und den niedrigsten Amphibien Anfangs hinter der Oberlippe, dann in der Gegend hinter den Schneidezähnen,
bis sie, allmälig immer weiter rückwärts fortschrcilcn und damit auch der harte Gaumen
und die Nasenscheidewand immer, länger werden.
2) mit der zunehmenden Verkürzung oder Umkrümmung der Schädelwirbelsäule, der Kiefer und
der Nase, welche sämmtlich bei den niederen Wirbelthieren von der Rumpfwirbelsäule aus in gleicher
Richtung mit ihr, d. h. gerade vorwärts laufen, bei den höheren umgekehrt sich hirtenstabförmig mehr
und mehr von ihr abwärts ([oder vorwärts), herabbiegen. Damit übereinstimmend schiebt sich der
Körper des Nasenwirbels ([Pflugscharbein) nach und nach über den ganzen dritten und zweiten Schädelwirbelkörper
hinweg nach hinten, und die ganze Basis cranii verkürzt sich von der spina nasalis
anterior bis zum foramen magnum. Auch der Vomer verkürzt sich zwar bis zum Menschen herauf,
schiebt sich aber zugleich rückwärts, so dass erj wie ich eben gezeigt habe, immer mehr-von den drei
anderen Schädelwirbelkörpern überdeckt.
Nachdem ich dieser Ortsveränderung des Pflugscharbeins gedacht habe, bemerke ich noch mit
Rücksicht auf meinen Gegenstand, dass ohne Entfernung dieses Knochens ebendeshalb bei den höheren
Säugethieren und dem Menschen der vollständige zw eite und. vorzüglich nicht der dritte
Schädelwirbelkörper übersehen und gemessen werden kann. Nur in der Jugend und hei einzelnen
Säugethieren ([Hase, Luchs u. s. w.) ist dies möglich, indem man hier die vordere Grenze auch des
dritten Schädelwirbels scharf erkennen und bestimmen kann.
Ich habe an den Schädeln von etwa 30 verschiedenen Säugethieren und ausserdem an mehreren
Menschenschädeln über die Länge des ersten und zweiten Schädelwirbelkörpers ([Zapfenlheil des Hinterhauptbeins
und hinterer Abschnitt des Keilbeinkörpers, der die Sella equina enthält) Messungen
angcslellt. Die folgende Tabelle dieser Messungen liefert uns hierüber den Beweis:
dass weder in der Reihe der S äugethiere, noch in den verschiedenen
L ebensaltern des Menschen, noch endlich selbst bei den beiden Geschlechtern
das L ängenverhältniss der zwei ersten Schädelw irbelkörper
sich gleich bleibt, dass vielm ehr nach einem bestim m ten Gesetz
G rössenverschiedenheiteil zw ischen ihnen stattfinden.
Ich lasse diejenigen im Durchschnitt vorangehen, die sich durch verhältnissmässige Länge des
Zapfenllieils auszeichnen.