Traditionen und Bildwerke. Dieselbe zauberische
Gewalt^ welche Perser und wahrscheinlich
auch Ägypter ihren Wundervögeln bey-
1 egten, schrieben die Griechen dem Vogel
Jynx, dem Wendehals, zu. Denn in keiner
ändern Bedeutung, als dafs sie fähig sey, das
menschliche Herz zu edlen Regungen zu begeistern,
kann die Jynx auf Sophokles Grabmal
gestanden haben. Sie war hier gleichbedeutend
mit den goldenen Keledonen, die im
Tempel des delphischen Apollo aufgehangen
waren, und mit der Sirene, die auf des Isokrates
Grabmal stand. Am meisten freylich
wurde die Zauberkraft der Jyngen auf die
Bethörung zum Wahnsinn der Liebe bezogen,
wodurch sie den homerischen Sirenen noch
näher treten. In dieser Bedeutung kommen
sie auf griechischen Vasengemälden vor, immer
als blofse Vögel, in der Gestalt der
Wendehälse gebildetI4). Dagegen findet sich
unter Herrn Tischbeins Platten eine andere
Figur nach einem griechischen Vasengemälde,
die wir zum Vergleich mit jener ägyptischen
auf unsere Tafel gebracht haben. Leib und
Füfse eines Vogels, emporgerichtete Flügel,
wie die auf dem thebischen Gemälde haben,
der Kopf weiblich und mit einer Art Haube bedeckt,
die nicht weit von der Calantica entfernt
ist. W ir lassen dahingestellt seyn, was
der Künstler in diesem Bilde habe darstellen
wollen- eine blofse Jynx ist es nicht, an die
Harpyien möchten wir bey einer so geschmückten,
zierlichen Figur nicht denken; an
die Sirenen könnte man wohl durch die Felsen,
worauf und hinter welchen sie steht, erinnert
werden, und so hätten wir eine noch
deutlichere Annäherung der griechischen Vorstellungsart
an die ägyptische. Doch es sey
genug, die auffallende Ähnlichkeit beyder dadurch
anschaulich zu machen.
w e n n also Sirenen, Jyngen und Keledonen,
nur verschiedenartige Ausbildungen derselben
Sage, sowohl der Bedeutung als der Gestalt
nach auf persische und ägyptische Mythen
hinweisen: so darf man wohl annehmen, Homer
habe die Tradition vom Ausland aüfge-
nommen, aber, wie er sie zu einem anmuthi-
gen Mährchen benutzte, die nähere Bezeichnung
der zauberischen Vögel vorsätzlich oder
unwillkührlich aus der Acht gelassen. Die
bildende Kunst jedoch, die in späterer Zeit
wieder der fremden Sage folgte, entfernte
sich dabey von ihrem wahren Beruf, das Schöne
darzustellen, und hätte besser gethan, der
Idee, die sich so natürlich aus der homerischen
Dichtung entwickelt hatte, getreu zu
bleiben IS\
U n d damit auch wir von dieser Abschweifung,
die uns dem Gebiete der bildenden
Kunst beynah entführt hätte, zurückkehren,
sey es uns noch vergönnt, zum Beweis, wie
glücklich das Abentheuer des Ulyfs mit den