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P h y s i o 1 o g i !ls c h e E i n l e i t u n g :
v o n d e r E n tw i c k l u n g d e r T h i e r e im A l l g em e i n e n .
W en n das Studium der Entwickhingsgeschichte nicht bereits an und für sich, und dann auch in Beziehung
auf Verständniss der gegenseitigen Verhältnisse verschiedener normaler und abnormer Thierformen
anerkannt von besonderer Wichtigkeit wäre, so dürfte man demselben schon in Bezug auf seinen geislbil-
denden Einfluss das höchste Interesse zuschreiben. Denn wenn es auf der einen Seite eine der höchsten
Aufgaben unsres Geistes ist, zur Erkenntniss der Einheit des Wesens in der Manmchfaltigkeit der Erscheinung
zu gelangen, so kann man auf der ändern Seite nicht läugnen, dass die Art und Weise* wie wir vermöge
unsrer sinnlichen Natur ursprünglich an der Erscheinung haften, und wie wir jedes Einzelne als Einzelnes
zunächst aufzufassen und festzuhalten bemüht sind, uns bei jenen Bestrebungen manches Hinderniss in den
Weg legt. — Wer nämlich auf diese W eise vieles Einzelne nur in. irgend einem beharrenden Zustande seinem
Geiste einprägt, in dem wird sich nach und nach eine gewisse Starrheit der Vorstellung ausbilden, welche
es ihm schwer macht späterhin anzuerkennen, wie ein und dasselbe Wesen, welches ihm unter dieser?;einen
Form bekannt geworden war , nun auch wieder unter gewissen Verhältnissen unter einer < ganz ändern
Form erscheinen kömie. Wie aber soll, der zum vollständigen Begriff irgend einesWesens gelangen, dem die
Biegsamkeit der Phantasie fehlt, um so viele verschiedene Erscheinungen, als deren immer diesem Wesen
möglich sind, im Geiste zusammenzufassen und gleichsam mit einem Blicke zu überschauen?--------
So gewiss es daher ist, dass, wenn wir nun insbesondre von Naturwissenschaft sprechen, die Schärfe
und vollständige sinnliche Auffassüng 'der eirizelnen Form irgend einer Individualität eine unerlässliche Bedingung
ist, so gewiss ist es als eine nicht minder wesentliche Bedingung anzusehen, dass imser Geist mit innerer Bildsamkeit
jener Mannigfaltigkeit in dem Spiele ihrer Verwandlung zu folgen vermöge* dass er lerne den Begriff einer
höhern Einheit in dem Strome verschiedenartiger Erscheinungen unwandelbar festzuhalten, imd dass er SO'
gleichsam das e in e Wiesen unter allen seinen Verkleidungen immer richtig wiederzuerkennen fähig werde.
Was aber wird wohl mehr geeignet seyn unserm Geiste diese Fähigkeit zu verschaffen, als ein aufmerksames
Studium der Geschichte und, wenn von der Naturwissenschaft die Rede ist, der Entwicklungsgeschichte
organischer Einzelwesen? — Denn wie man wohl-yvon dem • einzelnen Menschen oder einem
Volke sagen kann: d ie G e s c h ich te d e s s e lb e n is t d er M e n s ch od e r is t d a s V o lk , so ist auch bei
dem organischen Individuum d ie G e s c h ic h t e d e s s e lb e n s e in e ig e n t l i c h e s W ie sen u n d d er Inb
e g r i f f s e in e s D a s e in s .
Indem wir daher nur für erst ganz einfach allen den seltsamen Metamorphosen nachgehen, welche
ein organisches Wesen in seinem Lebensgange durchläuft, jede einzelne Gestaltung desselben, wie sie sich
bildet und wieder umbildet, uns genäu einprägen, zugleich aber sie stets mit der vorhergegangenen und
nachfolgenden Form vergleichen, bereiten wir uns nicht nur den ächten Begriff dieser Individualität überhaupt
vor, sondern gewinnen uns auch immer mehr jene Biegsamkeit des Vorstellungsvermögens, welche, wie
schon oben bemerkt* unerlässlich ist, um zu einer wahrhaft genetischen und endlich zu einer pltilosophi-
schen Auffassung der Naturerscheinungen'zu gelangen. Man hat übrigens nur nöthig, die Werke der Männer,
welche wie A r is to t e l e s , H a r v e t , H a l l e r , W o l f f , O k e n , M e c k e l , v . B a e r und Andere sich vorzüglich
mit der Entwicklungsgeschichte organischer Körper beschäftigt haben, mit ändern, welche solchen Bestrebungen
ganz fremd geblieben sind, zu vergleichen, und man wird den wichtigen und geistbildenden Einfluss,
welchen jene Richtung hervorbringt, keineswegs zu yerkennen im Stande seyn..
Nach diesem Vorworte über die Bedeutung der Entwickehmgsgeschichte überhaupt wende ich mich
jetzt zu einer kurzen Darstellung der Grundsätze, welche mir als die wesentlichsten in Bestimmung des
Fortschreitens der organischen Metamorphose erschienen sind, und deren stätige Beachtung deshalb bei dem
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