Seitenpfaden oder lockenden Umwegen in noch jungfräuliche Gründe sich zu verirren,
bei deren Erforschung das ursprüngliche Ziel gar leicht aus dem Auge verloren
werden kann.
Tritt man dem Studium der oben erwähnten Sitte näher, so liegt es nahe genug,
dem Wesen und den Gründen auch aller übrigen Verzierungen bezw. Misshandlungen
nachzuspüren, denen der Mensch, ganz abgesehen von den nur aus religiösem Fanatismus
oder zu medicinischen Zwecken ausgeführten, sich aus den verschiedensten Gründen
unterwirft: Dem Färben und Beizen der Kopf- und Körperhaare; dem Ausreissen, dem
vollständigen oder theilweisen Rasiren derselben; dem Ausschlagen, Zufeilen, Färben,
Verzieren und Vergolden der Zähne; dem Durchbohren der Nasen, Lippen, Wangen
und Ohren; dem Trägen von Federn, Ringen, Pflöcken u. s. w. in denselben; dem Verstümmeln
der Brustwarzen oder dem der Finger und Füsse durch Abhacken einzelner oder
mehrerer Glieder; dem verschiedenartigen Behandeln der Nägel; der Beschneidung,
sowie der vollständigen oder theilweisen Verschneidung beide'r Geschlechter; der Ver-
nähung, Spaltung, Durchbohrung der betreffenden Theile u. s. w. — kurz, das Material
ist ein so umfangreiches, dass es in ein und derselben Arbeit unmöglich behandelt
werden kann.
Das Tätowiren allein ist ein Thema, zu dessen e r s c h ö p f e n d e r Behandlung
sicher mehr Jahre eifrigen Studiums in allen Erdtheilen sowohl wie in den Bibliotheken
gehören, wie dem Verfasser darauf zu verwenden vergönnt war. Derselbe beabsichtigt
in vorliegender Arbeit nur seine, während mehrjähriger Reisen in America, Asien,
Indonesien und Africa gemachten Beobachtungen niederzulegen und dabei zu versuchen,
unter Benutzung des weiteren, ihm bekannten, resp. zugänglichen Materials, die Täto-
wirung nebst deren Vorstufen zumal von der psychologischen Seite zu behandeln. —
Wie schon bemerkt, giebt es wohl kaum eine Sitte, die sich so allgemein auch
bei den verschiedensten und dabei dermassen isolirt oder von einander getrennt liegenden
Völkern oder Stämmen vorfindet, dass der Gedanke an irgend eine Uebertragung von
vornherein ausgeschlossen ist, wie die des Bemalens oder der mechanischen Hautverzierung.
Bevor letztere in Narbenzeichnung und eigentliche Tätowirung getrennt
wird, möge es gestattet sein, der Kürze halber das Wort „Tätowiren“ im Allgemeinen
anzuwenden.
Wohin wir unsere Blicke wandern lassen, überall finden wir diesen, Manchem
vielleicht räthselhaft erscheinenden Gebrauch. Der Hottentott1 in der südlichen Spitze
1 F ritsch. Die Eingeborenen Süd-Africas. p. 275: Paris 1787. I. p. 240: „Cette peinture, si l’on peut se
„Beschmieren und Bemalen ist allgemein“ (selbst servir de ce mot, consiste à se barbouiller copieuse-
wenn die Leute schon europäische Kleidung tragen), ment des pieds à la tête, d’une graisse dans laquelle
Sparrman A. Voyage au Cap de Bonne Espérance etc. ils out mêlé un peu de suie: ils ne l’essuient jamais.”
• Africas bemalt sich ebenso wie der Eingeborene von Arizona1 im nördlichen America,
der Papua auf Neu-Guinea gerade so wie der Patagonier in America’s südlichstem
Theile. Eine Betsileo“ auf Madagascar tätowirt sich nicht minder wie eine Grönländerin3
im nördlichen Polareise, der Buschmann in der Kalahari-Wüste4 nicht minder wie der
Bella Kula im nordwestlichen Amerika5; wir finden dieselbe Sitte auf Neuseeland6, wie
auf dem 100 Breitegrade nördlich gelegenen Kodiak7; der Schwarze Melanesiens8 oder
der Australier9 zerfetzt sich die Haut ebenso wie der Anwohner des Nil, des Niger
oder des Congo10, — kurz, man darf wohl die Behauptung aufstellen, dass es k e in
V o l k , k e in e n S tam m in d e r W e l t g i e b t , b e i dem d a s B em a le n o d e r
T ä t o w i r e n d e s K ö r p e r s n i c h t 'e in s t S i t t e w a r o d e r n o c h is t .
Aus dem Umstande, dass manche Autoren dieses Brauchs bei einigen Völkern vielleicht
keine Erwähnung thun, ist man noch lange nicht berechtigt zu schliessen, dass jene
Völker darum demselben nicht gehuldigt hättdn. E s ist z. B. merkwürdig, wie wenig
die älteren Schriftsteller und die Weltumsegler des vorigen Jahrhunderts sich um die
Tätowirung, die doch immerhin Jedem, zumal dem, welchem sie zum ersten Mal entgegentritt,
auffallen muss, bekümmert haben. Cook oder Dampier erwähnen dieselbe gelegentlich
mit einigen flüchtigen Worten, während sie der so viel einfacheren, das Aeussere
der Menschen allerdings mehr verunstaltenden Bemalung bedeutend mehr Beachtung
1 Globus. 1886. 49 No. 20. Kanab und das
Kaibab-Plateau in Arizona: „Mehrere der Indianer
. . . hatten das Gesicht bemalt, wie Clowns in einem
Cirkus; der Grund bestand aus gelbem Ocker, zwischen
Augenbrauen und Lid ein zinnoberrother Strich und
auf beiden Backen ein ebensolcher Fleck von der
Grösse eines 5 Frcs.-Stücks . . . Eine Frau trug einen
Säugling, dessen kleines Gesicht gleichfalls schon mit
Ocker gefärbt war."
2 Sibree, J. The great African Island. London 1880
p. 209: „Tattooing is chiefly seen among the Betsileo
women who frequently have a kind o f collar tattooed
upon their necks and breast."
3 H. Rink. Die neueren dänischeirUntersuchungen
in Grönland. Petermann’s Mitth. 1886. III. p. 83:
„Fast alle Frauen sind tätowirt;” W. H. Dall. Masks,
labrets etc. Washington 1886. p. 80. Note: „tattooed
lines on the chin used by all the Innuit and many
o f the West American coast nations, from Mexico
north;” Arctic cruise o f the revenue Steamer Corvin.
1881. Washington 1883. p. 35: „The prevalence o f the
habit of tattooing among the Eskimo is confined to
the female sex.”
4 F arini, G. A. Through the Kalahari Desert.
London 1886. (Globus 50 No. 13. p. 202): „Alle waxen
auf Wangen, Armen und Schultern tätowirt; es waren
kurze, gerade blaue Striche ohne weitere Verzierung.”
Schmidt in der-Sitz. d. Antlirop. Ver. in Leipzig vom
4. Juli 1886: „Hier zeigt die Haut (eines Kalahari
Buschmanns) sehr zahlreiche, bei den jüngeren Individuen
spärlicher, strichförmige, gruppenweise zusammenstehende
Tätowirungen, die theils dunkelblau
gefärbt, theils als einfache hellere Hautnarben erscheinen.”
Virchow in Verh. d. Berl. Anthrop. Ges.
1886. p. 222: „Tätowirschnitte finden sich zahlreich
an der Brust, auch an Gesicht und Armen, wo sie in
Form von Parallelstrichen, die durch Kohle gefärbt
sind, hervortreten.”
5 V irchow. Verhandlungen der Berliner Anthropologischen
Gesellschaft (V. B. A. G.) 1886. III. p. 210:
„Ziemlich häufig sind bei unsern Gästen Narben und
Tätowirungen, letztere namentlich um das Handgelenk,
am Vorderarm und an der Brust.”
6 Vgl. die Abbildungen.
i L isianski’s Voyage, London 1814. p. 195: „The fair
sex were also fondoftattooing the chin, breastandback.”
8 Meinicke. Inseln des Stillen- Oceans. p. 63
und a. a. O.
9 The native tribes o f S. Australia. Adelaide
1879. P- X X V II und a. a. O.
JO Waitz. Anthropologie der Naturvölker. II.
p. 25 und a. a. O.