jener, plötzlich vernachlässigt oder gar verschmäht und verachtete n Natürlich waren es
dann die Sklaven und Weiber, die-sich diesen ihnen früher wenig oder gar nicht zugänglichen
Schmuck mit Vorliebe aneigneten.1 Wie viele Jahre-über der Entwicklung
dieses Prozesses, dessen verschiedene Stadien wir an den verschiedensten Puncten
beobachten können und vor ioo Jahren noch besser beobachten konnten, vergingen, ist
wohl nicht zu berechnen. Gerade aber, weil vielleicht oft Jahrhunderte hierzu gehörten,
Jahrhunderte, während welcher die Völker sich culturell entwickelten, *— Verf. kann sich
nicht der trostlosen Aulfassung anschliessen, dass die Menschen, nach Gottes Ebenbild
als Idealmenschen geschaffen, im Laufe der Zeit an verschiedenen Stellen wieder zur
elenden Stufe der Wilden, der Naturvölker herabgesunken seien, sondern er glaubt und
hofft, dass die Menschheit vom ersten Augenblicke an berufen war, fortzuschreiten und
sich zu entwickeln und dass der Funke jenes oft unbewussten Strebens, dem Idealmenschen
so nahe wie möglich zu kommen, auch in der Seele des niedrigsten aller
Wilden schlummert ^ gerade darum müssen wir, ebenso wie wir im Tätowiren einen
Fortschritt gegen die frühere Bemalung sehen, das Nicht mehr Tätowiren als einen
culturellen Fortschritt im Gegensatz zu der früheren Sitte bezeichnen. . Tätowiren und —
stets natürlich relative - Cultur vertragen sich nicht mit einander; die letztere verdrängt
ersteres.
Dass nicht a l l e tätowirenden Völker diesen Entwicklungsprozess, der ja durch
alle möglichen Einflüsse gestört werden konnte, durchgemacht, haben, braucht wohl nicht
weiter hervorgehoben zu werden. —
Gerade so nun, wie es jedem Einzelnen—freisteht, sich so viel oder so wenig
tätowiren zu lassen, wie er Lust hat, gerade' so kann Je d e r '— mit nur sehr geringen
Ausnahmen ganz nach seinem Wohlgefallen darüber bestimmen, w a s er sich in die
Haut stechen lässt. Die Hautzeichnungen zerfallen in zwei Klassen: i. in reine Ornamente,
2. in bildliche Darstellungen. Die bei der Tätowirung zur Verwendung kommenden
Ornamente entsprechen selbstverständlich denselben, mit denen an dem betreffenden
Orte die Waffen, Geräthe, Schmucksachen u. s. w. verziert werden; mit dem Tätowiren
haben sie sonst in den meisten Fällen gar nichts zu thun. Dass die Hautmuster _mit der
Zeit manirirt wurden, ist aus der Unmöglichkeit für die Künstler zu erklären, ohne Anregung
von aussen her neue Muster zu schaffen und aus dem Umstande, dass die Technik
des Tätowirens mitsammt den im Laufe der Jahre ehrwürdig, „althergebracht« gewordenen
Mustern unter nur wenigen Mitgliedern einer beschränkten Kaste sich forterbte. Ganz
unvermeidlich entwickelte sich die Tätowirung hierdurch zum Kennzeichen eines Volks,
Stammes oder dgl., so dass jeder Markesaner, Formosaner u. s. w. durch seine Male als
1 Darvin bemerkte auf Pauinotu, dass die Männer früher viel weniger, jetzt wie erstere tätowirt waren,
schon lange nicht mehr alle, die Weiber dagegen Waitz. VI, p.. 31.
solcher erkannt werden kann. Das geht so weit, dass z. B. in Neuseeland die Tätowirung
zur Rekognoscirung des einzelnen Individuums diente, ein Umstand, der auf das
schlagendste beweist, dass, trotz der Uebereinstimmung der Ornamentik im Allgemeinen,
jeder Mensch seine specifische Marken im Gesicht trug. Maori’s, die von Weissen aufge-
fprdert wurden, ihre Unterschrift unter irgend ein (meist ihnen Unheil bringendes)
Schriftstück zu setzen, malten, da sie des Schreibens unkundig waren, einfach statt dieser
oder statt dreier Kreuze einen Schnörkel hin, der die charakteristische Tätowirung in
ihrem Gesichte wiedergab.1
Durch Zufall kann es auch Vorkommen, dass Tätowirungen verschiedener Völker,
die weiter gar nichts mit einander gemein haben, übereinstimmen, ohne dass irgend
eine Uebertragung oder dgk anzunehmen ist. So malen sich z. B. die Arowaken-Frauen
in Britisch - Guayana einen breiten blauschwarzen, von Ohr zu Ohr über den Mund
laufenden Streifen quer über das Gesicht und in derselben originell scheinenden Weise'
tätowiren sich die Chinwan-Frauen auf Formosa.
Neben den reinen Ornamenten sind es Gegenstände des täglichen Lebens, Lieb-
lingsthiere oder Figuren, die auf den Körper tätowirt werden: Der Tahitier schwärmt
für Kokospalmen2, der Japaner zieht den Drachen, der Hinterindier den mythologischheraldischen
Tiger vor u. s. w. Selbstverständlich wird sich kein Grönländer einen
Palmbaum, oder kein Markesaner einen Eisbären in die Haut stechen lassen.
Als vor 100 Jahren das erste Pferd hach den Gesellschafts-Inseln gebracht wurde,
begannen die Leute auf Huaheine sofort sich ein Bild desselben auf die Beine zu tätowiren3
und Capt. B e e c h e y bemerkte 1825 eine Menge Osterinsulaner, welche Schweine
auf Arm und Brust tätowirt hatten, Thiere, die sie nur durch ihre Besuche am Bord
europäischer Schiffe kannten, denn „there was not a quadruped upon the island, nor
haS any öne except the rat ever been seen there.«4
Europäischer Einfluss machte und macht sich überhaupt vielfach auf die Tätowirung
der Eingeborenen geltend: die Hawaiier schmückten sich mit englischen Buchstaben
und mit Bildern von Schiessgewehren; Neuseeländerinnen lieben es ebenfalls,
Wörter und Sätze mit europäischen Buchstaben in ihre Haut einzustechen; die Bella-
Kula trugen Bilder von Dampfbooten auf den Armen und einem Premierminister der
Königin Pomare auf Tahiti tätowirten französische Matrosen eine Windrose auf einen
Körpertheil, der ihnen aus verschiedenen Gründen hierzu besonders geeignet erschien.
1 In Südamerica setzen Viehhändler u. s. w., wenn
sie ihren Namen nicht zeichnen können, einen zu
jeder spanisch-amerikanischen Unterschrift gehörigen
Schnörkel (rubrica) unter Dokumente, der dann als
rechtsgültige Unterschrift angesehen wird.
.* E llis. II. p. 464.
* 3 Bligh. Voyage. p. 144.
4 1. c. p. 41. Beechey will aus diesem Umstande
auf Reminiscenzen an eine frühere westliche, mit
Schweinen gesegnete Heimath schliessen. (?)