Seiten, darunter von Regiments-Commandeuren versichert worden, dass in manchen
Regimentern, auch in Mittel- und Süddeutschland Tätowiren Mode ist. Gerade bei der
Armee wäre es leicht, die Zahl der täto'wirten Recruten bezw. der zur Reserve entlassenen
Mannschaften festzustellen, aber : — wie die Herren Generalärzte Professor
R o th und Dr. von C o l e r dem Verf. übereinstimmend mitzutheilen die Freundlichkeit
hatten — „irgend welches statistisches Material über die Zahl der tätowirten Recruten
oder Mannschaften e x i s t i r t n ic h t .“
Was die österreichisch-ungarische Armee betrifft, so ist Verf.. wiederum Seiner
Kaiserlichen Hoheit dem E r z h e r z o g e J o s e ph vön O e s t e r r e ic h für folgende gütige Mittheilung
zu gehorsamstem Danke verpflichtet: „In Ungarn ist es Sitte, dass sich die
Soldaten, namentlich vor einem Feldzuge, am Vorderarm ihren Namen, Geburtsort und die
betreffende Jahreszahl blau tätowiren lassen, was sie selbst unter einander vollführen.“
In der französischen Armee und Marine war und ist Tätowirung als Körperschmuck
in solchem Masse verbreitet, dass der Marineminister aus verschiedenen
Gründen sich veranlasst sah, dieselbe in einem besonderen Erlass zu verbieten,1 allerdings
ohne Erfolg. B e r ch o n schreibt: „II est peu de régiments qui n’aient leur tatoueur
bien connu“ ,“ und H u t in fand unter 3000 Invaliden 506 Tätowirte!
v Abgesehen nun von Marine und Armee, von> Reisenden und Seeleuten finden
sich auch unter der, keinerlei fremdem Einfluss ausgesetzten binnenländischen deutschen
Bevölkerung zahlreiche Freunde und Anhänger des. Tätowirens. Wer sich die Mühe
nimmt, darauf zu achten, wird überrascht sein über die Häufigkeit, mit der ihm Tätowirung
in öffentlichen Bädern, oder auch .tagtäglich auf der Strasse entgegentritt ; zumal
Schlächter und Küfer sind es, die, vielleicht als Ueberlieferung früherer Zunftzeichen,
diesem Brauche huldigen. Ihre Merkzeichen entsprechen natürlich ihrer Lebensstellung:
gerade so wie sich etwa der Matrose einen Anker einstechen lässt, so, wählt der
Schlächter ein Paar gekreuzte Beile, ein sentimental gestimmter Jüngling wird die bekannten
Embleme von „Glaube, Liebe, Hoffnung“ vorziehen u. s. w.
An dieser Stelle mag auch erwähnt werden, dass vor Kurzem in der berliner
Nationalzeitung3 unter der Anzeige „Wer tätowirt“ ein Hautverzierungskünstler gesucht
wurde.
Eben so wenig Beachtung wie der Tätowirung unserer lebenden Landsleute
geschenkt wird, eben so wenig bekümmert man sich um die der Todten. In der
berliner Charité wird z. B. die Tätowirung der betreffenden Leichen in die Sections-
protocolle n ic h t aufgenommen. Also auch hier war es unmöglich, irgend welche
verlässliche Zahlen zu erhalten. Nach Mittheilungen des Inspectors des pathologischen
1 vom 1 1 . Februar 1860. Berchon. p. 31.
9 Arch. de Méd. Navale XII. p. 143.
3 1886. No. 513.
Instituts in Berlin, sowie von Prof. G r aw it z in Greifswald, früherem langjährigen
Assistenten von Prof. V ir ch ow , dürfte indess angenommen werden, dass ungefähr
4 Procent sämmtlicher männlicher in Berlin zur Section kommenden Leichen Tätowirung
an sich tragen.
Die Zeiten, während deren der Europäer mit souveräner Verachtung auf dei|?
Naturmenschen, den „Wilden“ herabsah, sind vorbei'.; Mit jedem Tage bricht sich die
Ueberzeugung breitere Bahn, dass wir mit unseren modernen Anschauungen und Sitten
nur gar wenig denen der lange genug vernachlässigten oder verspotteten Wilden
voraus sind, -ja dass wir zur Erkenntniss unseres eigenen Geistesleben gezwungen sind,
auf die Naturvölker zurückzugreifen.
Je mehr unsere Selbstkenntniss zunimmt, desto mehr verengt sich die Kluft, die
uns bisher von dem Naturmenschen, betrachten wir als solchen nun den Eingeborenen
der uns Europäern erst seit Kurzem — seit Secunden in der Erdgeschichte — bekannten
Welttheile oder unsere prähistorischen Vorfahren, zu trennen schien. Sitten, Gebräuche
und Gedanken, die uns anfänglich specifisch „barbarisch“ Vorkommen, finden
wir bei näherem Zusehen theils in unveränderter, theils in einer den verschiedenen
anthropologischen oder geographischen Bedingungen entsprechend modificirten Form bei
uns wieder.
Körperbemalen, Narbenzeichnen und Tätowiren mögen Manchem auf den ersten
Blick als Sitten erscheinen, zu deren Vergleichung und Besprechung man nur Naturvölker
oder dahin geschwundene Rassen heranziehen kann -r|||die vorliegende Arbeit
dürfte gezeigt haben, dass heute, am Ende des 19. christlichen Jahrhunderts in Europa
unter allen Schichten der modernen Gesellschaft, von der höchsten bis zur niedersten,
die Sitte der Hautmalerei, die Beliebtheit des Narbenschmucks und selbst der Brauch
der Tätowirung noch nicht ausgestorben sind.