Während also hier das Christenthum gegen das Tätowiren vorgeht, sehen wir im
Mittelalter diese selbe Sitte wiederum von allerchristlichster Stelle, nämlich vom heiligen
Grabe in Jerusalem aus, sich nach dem Abendlande hin verbreiten. T h e v e n o t schrieb
im Jahre 1 658 aus Jerusalem : „Nous employâmes tout le mardi 29 avril, à nous faire
marquer les bras comme font ordinairement tous les pèlerins; ce sont des chrétiens de
Bethléem suivant le rite latin qui font cela;111 D a m p ie r sowohl wie K ä m p f e r mussten,
wie wir oben* sahen, auf diese jerusalemer Sitte verweisen, um ihren Lesern den heidnischen
Brauch auf den Philippinen oder in Siam erklären zu können, und diese Sitte
hat sich bis in die jüngste Zeit erhalten. —
Was nun das Tätowiren der Europäer h e u t z u t a g e betrifft, so ist die Verbreitung'
dieses Brauchs ein viel bedeutenderer, wie im Allgemeinen angenommen wird.
Leider ist es vollständig unmöglich, diese Thatsache durch Zahlen zu beweisen. Wenn
am Eingänge dieser Arbeit bedauert wurde, dass der Tätowirung in fernen Welttheilen
von den Reisenden so wenig Beachtung geschenkt werde, so darf man wohl mit. demselben
Recht seine Verwunderung darüber aussprechen, dass auch die Tätowirung in
Europa s a wenig Beachtung findet. Es giebt doch gewiss kein besseres „besonderes
Kennzeichen“ , und dennoch wird Tätowirung weder in Civil- noch in Militärpässen
jemals als ein solches angeführt. Nur in Steckbriefen oder in der Personalbeschreibung
des Verbrecheralbums finden wir die Tätowirung erwähnt, und dadurch hat sich bei
einem grossen Theil des Publicums die vollständig irrige Ansicht gebildet, dass
sich Träger von Tätowirungen vorwiegend nur aus solchen Kreisen reerutirten, deren
Mitglieder steckbrieflich verfolgt zu werden pflegen oder deren Porträts das Verbrecheralbum
zieren. Diese irrige Ansicht wird allerdings unterstützt durch leichtfertige
Aeusserungen, wie sie z. B. L a c a s s a g n e in seiner oben erwähnten Arbeit : „Le s
tatouages“ macht. Derselbe nennt (in 20 Zeilen) Tätowiren bei Occidentalen ein „aus
Unwissenheit, Thorheit und Müssiggang hervorgegangenes kindisches, Verbrecher und
Prostituirter würdiges Treiben“ . L a c a s s a g n e hat aber ganz vergessen, dass er seine
eingehenden Studien über das Tätowiren der Europäer bei 3 algerischen „Bataillons
d’Afrique“ , d. h. bei dem Auswurf an Verbrechern, Sträflingen, Mördern und Galeeren-
sclaven der ganzen französischen Armee gemacht hat! E r weiss es einfach nicht, dass
es viele Tausende braver, solider Europäer giebt, die tätowirt sind.
Es ist indess nicht zu leugnen, dass Tätowiren .gerade in Verbrecherkreisen sehr
^beliebt ist. Diese Thatsache ist psychologisch um so räthselhafter, als es doch gerade
die Verbrecher sind, die alles mögliche Interesse daran haben müssten, sich k e in solches
Mal, an dem sie so leicht wiedererkannt werden können, in die Haut zu stechen.
Vorwiegend sind es alte Verbrecher, die in den Gefängnissen ihre jüngeren Ge1
Voyage au Levant cap. 46. Paris 1689. p. 638. 2 P-.59 u- loonossen
auf diese Weise zeichnen, indess auch „über die Höhe des Procentsatzes täto-
wirter Verbrecher“ wird, wie das Königliche Polizei-Präsidium in Berlin dem Verf. mit-
zutheilen die Güte hatte, nicht Buch geführt, so dass es immer noch zu beweisen ist,
dass Verbrecher sich wirklich häufiger tätowiren wie unbescholtene Menschen, aber
allein die Thatsachen, dass es von Europäerinnen nur Prostituirte der schlimmsten Sorte
sind, die sich tätowiren, und dass ferner n u r Europäer bzw. Weisse — nie aber sogenannte
„Wilde“ — sich obscöne Dinge in die Haut stechen lassen (die meist Bezug auf
unnatürliche Laster haben) zeigen, wie sehr diese ursprünglich heidnische Sitte, einer
exotischen Pflanze gleich, auf unserm christlich-europäischen Boden zu einem widerlichen
Unkraut entarten konnte.
Eine Entartung oder ein Missbrauch der Tätowirung, jener eigentlichen Körperzier,
war denn auch ihre Verwendung an Stelle des Brandmarkens, das seinerseits theils
als schmerzliche Strafe, theils nur als rohes „Markir“ -Mittel zur Anwendung kam.
Schon H e ro d o t berichtet, dass den Thebanern, die sich dem Grosskönig ergaben, der
Name oder das Wappen des Königs auf die Stirn tätowirt wurde ((rzlyfictza ßaadtjux).1
Während, wie P l u t a r c h uns überliefert hat, die Samier im peloponnesischen Kriege
den kriegsgefangenen Athenern noch Eulen, die Athener jenen Schiffshintertheile, die
Syracusaner denselben Pferde auf die Stirn brannten,“ finden wir bei P l a t o schon
Tätowirung als Strafe für Tempelschänder vorgeschlagen.3 Die Römer tätowirten sowohl
Kriegsgefangene wie Sclaven im Allgemeinen. V e r g i l , V a l e r iu s F l a c c u s ,
M a r t ia l ,4 J u v e n a l s und Andere erwähnen häufig diese Sitte, ebenso S e n e c a , 6 P l in iu s
der Jüngere,7 G a l e n u s , 8 A u so n iu s 9 u . A. Caligula liess, wie S u e to n berichtet, zuweilen
die anständigsten Leute zu seinem Vergnügen wie Verbrecher tätowiren;10 Ptole-
maeus Philopator zeichnete die Juden, die zwangsweise zum Bacchus-Cultus bekehrt
worden waren, mit einem Epheublatt," und der Kaiser Theophilus liess zwei Mönchen,
die ihn der Bilderstürmerei beschuldigt hatten, zur Strafe 1 1 Spottverse in'Jamben auf
die Stirn tätowiren, was einen hohen Grad technischer Vollkommenheit voraussetzen
lässt. Die römischen Recruten wurden, bevor sie den Militäreid ablegten, tätowirt,12
wahrscheinlich um ihre Desertion zu verhindern, gerade so wie heute noch die Soldaten
des Sultans von Marocco; auch andere Staatsarbeiter wurden so gezeichnet.13
Diese Strafe resp. dieses Zeichnen von Gefangenen hat sich bis in die neueste
Zeit erhalten. In Russland wurden bis vor Kurzem die nach Sibirien Verbannten (an
* VII. 233.
2 Pericl. 26.
3 8 de Leg.
4 z. B. Epigr. III. 21.
s Satir XIV. II.
6 de Benef. IV.. 37.
7 Panegyricum IV.
8 de Hippocratis et Platonis decretis V I. 9.
9 vgl. Berchon. 1. c. p. 461 u. 109.
Caligula XXVII.
11 3. Buch Maccabäer (nach Berchon. p. 377).
12 V egetius. de re militari I. 8; II. 5.
*3 Cod. Theodosian. X. 22. 4.