Wir haben aus Obigem ersehen, . dass der hauptsächliche Trieb, welcher beide
Geschlechter bewegt, sich zu tätowiren, d e r ist, ihre Reize in den Augen des andern
Geschlechts zu erhöhen, daher finden wir denn auch, dass gerade zu der Zeit, wo
bei beiden Geschlechtern der Wunsch, dem andern zu gefallen, am allerstärksten sich
regt, zur Zeit der Geschlechtsreife bzw. bei den Pubertätserklärungen, die Tätowirung
häufig eine Rolle spielt. Oft ist sie .bis zu jenem Zeitpunct beendet, oft wird sie erst
an jenem begonnen; wegen der häufig mit der Operation verbundenen Schmerzen soll
sie, gerade wie die Narbenzeichnung, beiden Geschlechtern Gelegenheit geben, Proben
ihrer Standhaftigkeit abzulegen, aber das Vorwiegen des Sexuellen hierbei, viel mehr wie
bei den Ziernarben, beweist die Vorliebe,' mit der man gerade um diese Periode die
Genitalien bei beiden Geschlechtern tätowirt.
Den engen Zusammenhang zwischen Geschlechtsreife (bzw. Geschlechtstrieb) und
Tätowirung finden wir in allen Erdtheilen. In Africa haben nach C. Mauch die Maka-
laka die Sitte, „dass die alten Frauen die jungen Mädchen zur Pubertätszeit tätowiren,
wobei unter grossem Schmerz dem armen Wesen ca. 4000 Schnittchen in die Haut
gemacht werden-, dann reibt man eine ätzende, durch Kohlenpulver geschwärzte Salbe
ein.“ In America tätowiren die Mädchen der Pueblos „on arriving at the age of ma-
turity“ ; 1 ebenso bei den Abiponern nach Dobrizhoffer; 2 „the female sex among the
Eskimo are tattooed on arriving at the age of puberty“ (Arctic cruise of the Corvin) ; 3
in Paraguay pflegen die Lenguas, die Payagfuas und andere Stämme das junge, mannbar
werdende Mädchen zu tätowiren (Ploss) ;4 (zahlreiche weitere Beispiele bei Wuttke
p. iio ) . Im Malayischen Archipel, z. B. auf Seram, erhalten Jünglinge das Kakihan-
zeichen durch Tätowirung als Zeichen der Pubertät; dasselbe bedeutet Tätowirung auf
Aaru,s auf Formosa,6 auf Neu-Seeland,7 auf Fidschi,8'a u f Tahiti, wo die geschleehts-
reifen Mädchen sehnsüchtig dieses Moments harren, denn nicht mannbar zu sein gilt für
sie als Schande9 — kurz, Jünglinge und Mädchen drängen sich zur Tätowirung heran,
denn oft erhalten sie erst d u r c h s ie das langersehnte Recht, sei es nun in der Ehe oder
ohne eine solche, ungestört mit einander zu verkehren. Vr:
E s erscheint hiernach selbstverständlich, dass die Menschen sich nur, oder
wenigstens mit Vorliebe diejenigen Körpertheile tätowiren, welche dem Anblick des
andern Geschlechts nicht durch Kleidung entzogen sind: J e w e n ig e r s ic h e in M en s c h
1 Bancroft. p. 352.
* Geschichte der Abiponer Wien 1783. II. 24,
31, 37-
3 1. c. p. 35-
4 Das Weib. p. 162.
5 Riedel. 1. c. p. 251.
^ 6 vgl. d. Ver£ citirten Aufsatz d. Verf.
7 Dieffenbach. 1. c. p. 33.
8 Wilkes, p. 375 „women o f rank later“ .
9 Förster. Bern, auf einer Reise um die Welt.
Berlin 1783, p. 374.
b e k l e i d e t , d e s t o m e h r t ä t o w i r t e r s ic h u nd j e m e h r e r s ic h b e k l e i d e t ,
d e s t o w e n ig e r th u t e r l e t z t e r e s ^ Daher kommt es denn, dass Tätowiren bei
solchen Völkern, die, in gemässigten Zonen lebend, in Folge des Klimas gewohnt
oder gezwungen sin d ,« d a s. g a n z e f f l a h r h in d u r c h , s o w o h l a u s s e r h a lb w ie
in n e r h a lb ih r e r W o h n u n g e n , b e k l e i d e t e in h e r z u g è h e n , ÿ i t w e d e r g a r
n ic h t S i t t e i ^ , o jä e r d a s s di^fe-elbe s te h a l s d a n n n u r a u f d ie V e r z i e r u n g
d e r u n b e k le id e t e n ^ E x t r e m i t ä t e n , d e r H ä n d e u n d G e s i c h t e r , b e s
c h r ä n k t .
Bei den Europäern hat christliche Cultur den Brauch in gewissen Grenzen ge halten;
in Centralasien magjzji dem obigen Grunde noch die grenzenlose Nachlässigkeit
^kommen, mit welcher die Leute ihr Aehsseres überhaupt behandeln; die Centralasiaten
haben, wie wir aus den, neuesten Forschungen von Radloff' u. A. ersehen,, bis heute
•weder gelernt sich zu • waschen, noch nehmen, sie das geringste Interesse daran, sich
irgendwie zu verschönern;!jjlj stehen in dieser Beziehung oft unter dem Thier.
Der Mensch nun, der in der glücklichen Lage Ist, sein Leb e ifg ang unbekleidet
umher wandeln zu können, wird S h auch über den ganzen Körper und, aus den vorhin
angeführten Gründen, zumal an d e n Stellen tätowiren, dielljr, sobald er durch irgend
welche Gründe veranlasst wird, sich theilweise zu bekleiden, z u e r s t bedeckt : die Umgebung
der Genitalien und die Gesässtheile. Diese selben Theile wird er dann auch,
sobald er sj^h an die Bekleidung gewöhnt hat, z u e r s t n ic h t m e h r tätowireri, und bei
all solchen Farbigen, die, etwa in Folge von religiösen pirflüssen (Islam, Christenthum
u. dgl.) ode| ; von veränderten klimatischen und localen Lebensbedinguttgen sich f l bekleiden
beginnen, kann man beobachten, dass bei ihnen die Tätowirungj entsprechend
der zunehmenden Bekleidung, von Generation zu Generation sozusagen am Körper
„herunterrieselt“ und sich nachher, gerade wie bei den oben erwähnten Völkern, nur auf
die unbedeckt gebliebenen Körpertheile eoncentrirt. Blätöwirung unter Bekleidung hat
keinen Zweck, « existirt n i c h t g g u r in Europa. Wohl findet man s c h e in b a r e
Ausnahmen von dieser Regel, so schreibt z, :B. A ndrée in der Revue. d’Ethnographie:-
„D er Gebrauch des Tätowirens erscheint seltsam bei den Völkern Sibiriens, weil sie
durch das Klima gezwungen sind, sich in ihre Kleider zu verstopfen und eine Tätowirung,
die man nicht siéjiit, keine raison d’être zu haben scheint. Bei bekleideten Völkern, bei
denen dieser Gebrauch sich erhalten hat, kann er als ein Ueberbleibsfil einer Epoche
angesehen werden, zu welcher sie noch vollständig nackt oder nur theilweise bekleidet
einhergingen.“ Ganz recht! Der gelehrte Verf. hat nur übersehen, dass diese Bewohner
des hohen Nordens heute noch in der am Schluss seines Satzes angedeüteten Epoche
1 Aus Sibirien. 1884.
J obst, Tätowiren.
2 Paris 1882. I. p. 360.