
Nigritier-, Papüa-, selbst bei einzelnen indochinesischen Schädeln, wenngleich in etwas
abgeänderter Weise, zum Ausdruck gelangend. Denn auch bei den niedrigsten Menschenrassen
ragt der unterhalb des vorderen Kinnstachels befindliche Abschnitt des Unterkieferbeinkörpers
immer weit mehr nach vorn vor. Die eigentliche Kinnbildung kommt
hier durchaus jnehr zur physiognomischen Ausprägung, als bei jenen Thieren. Selbst der
vielberufene Unterkieferbeinrest von Moulin Quignon zeigt (wie überhaupt die mir bekannten
Schädel und Schädelfragmente von vorhistorischen Menschen) jenes Verhalten.
Schaaffhausen hat bei seiner Restauration des problematischen Neanderthalmenschen
diesem Verhältniss ebenfalls Rechnung getragen, hat uns übrigens damit ein Menschenbild
geliefert, dessen anatomische Missverhältnisse uns kaum zur Veranstaltung einer weiteren
Vergleichung aufmuntem können.1 Es lässt sich nun wieder nicht verkennen, dass bei
den Anthropoiden, namentlich Chimpanses, weniger bei Gorillas und Orangs, in ausgeprägter
Weise nach hinten rückende Unterkieferbeinäste, ganz besonders aber die Gelenkfortsätze
derselben,2 sich nicht allein an dem Reste von Moulin Quignon, sondern auch
bei Schädeln verschiedenartiger niederer Menschenrassen der Jetztzeit wiederfinden. Endlich
möchte ich auch auf die im Gegensatz zum Menschenschädel beträchtliche Länge der
Unterkieferbasis, vornehmlich bei den Chimpanses, aufmerksam machen.
Ferner lässt sich nachweisen, dass bei der Entwicklung der Körperform unter den
Anthropoiden die räumliche Ausdehnung des Himschädels gegenüber der colossalen
Ausdehnung der dem Kauapparat anheimfallenden Theile des Gesichtsschädels eine grosse
Benachteiligung erleidet. Etwas dem Entsprechendes hat man bis jetzt denn doch bei
den niedrigsten menschlichen Horden vergeblich gesucht. Der berühmte Neanderthal-
schädel, dessen Original während- des Berliner Anthropologencongresses (zwischen dem
5.-^—12. August d. J.) meiner Beobachtung zugänglich war, zeigt neben den mächtig entwickelten
Oberaugenhöhlenbögen auch noch in hohem Grade jene occipitale Querwulstung,
deren Aehnlichkeit mit einer anthropoiden Orista lambdoidea ich bereits auf S. 120
erörtert hatte.
Koch während des Druckes dieser Zeilen geht mir eine akademische Abhandlung
R. V irchow's „über den Schädel des ju ng en G o r illa “ zu.3 Da es mir selbst an
jugendlichen Gorillaschädeln ziemlich gebrach,4 so ergreife ich mit Freuden die Gelegenheit,
hier der eben erwähnten Arbeit des ausgezeichneten Forschers zu gedenken. V irchow
bemerkt u. A., dass bei den von ihm untersuchten Specimina das Wachsthum des Schädelraumes
wenig austrage, während die Gesichtsknochen sich in der stärksten Weise ver-
grösserten. Man vergleiche hiermit die hier oben vbn mir über die Entwickelungsverhältnisse
des Anthropoidenschädels im Allgemeinen dargelegten Sätze.
1 Mir liegt von diesem grossolirigen Ungeheuer augenblicklich nur die Copie in Fr. v . H ellwald: Der
vorgeschichtliche Mensch, II. AufL, Leipzig 1880, S. 141, vor.
2 Vergl. z. B. hier Taf. X X Fig. l a.
8 Auszug aus dem Monatsbericht der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom 7. Juni 1880.
4 Nach den wenigen Specimina, welche mir Vorgelegen haben, sind die oben S. 47 über den ganz
ju n g en m ä n n lich en und S. 49 über den gan z ju n g en w e ib lich en Gorilla-Schädel veröffentlichten,
leider nur seh r k u r z ausgefallenen Bemerkungen zusammengestellt worden.
V irchow erwähnt ferner, dass sich an den Schädeln dieser Thiere von selbst eine,
mit jedem Lebensjahre zunehmende Länge des Schädels ergebe, welche jedoch weniger
»der Kapsel als solcher, als vielmehr den knöchernen Aussenwerken derselben zuzuschreiben
•sei. Auf diese Weise erkläre es sich, dass manche Beobachter die Schädelform der
afrikanischen Anthropoiden als d o lich ö c ep h a l betrachten und in einen bestimmten
Gegensatz gegen die brachycephalen Anthropoiden Asiens stellen1 — eine Auffassung,
welche durch die Untersuchung des ju g en d lich en Gorilla widerlegt wird. V irchow
folgert vielmehr aus. seinen an letzteren veranstalteten Messungen, dass auch der jugendliche
Gorilla b ra ch y c ep h a l Sei, dass aber mit zunehmendem Alter die Brachycephalie
abnehme, wenigstens in sofern die äusseren Wülste mitgerechnet würden. In dem einen
von V irchow benutzten ganz jungen Dresdener Exemplar finde sich eine parietale (obere),
im entwickelteren Berliner (aus dem zoologischen Museum stammenden) Exemplare dagegen
eine temporale (untere) grösste Schädelbreite, somit eine vollständige Verlegung
der physiognorniseh-bestimmenden Puncte. Sehr interessant sind ferner V irchow's Darstellungen
des Wachsthums und Verhaltens des Stirnfortsatzes der Schläfenschuppe, welcher
Fortsatz nach seiner (unzweifelhaft richtigen) Angabe direct aus der Schläfenschuppe
hervorwachsen soll. (Vergl. S. 44, 113, 122.)
Nach V irchow schiebt sich das einen einzigen Knochen darstellende. Nasenbein des
Dresdener Exemplares mit feiner Spitze zwischen die auseinanderweichenden Theile des
Stirnbeines, man könnte kaum sagen, die Nasenfortsätze des Stirnbeines ein. Da wo
das Nasenbein endigt, läuft die Naht jederseits noch eine kleine Strecke weit in das
Stirnbein hinein und zwar so, dass die beiden Schenkel gebogen auseinander weichen
und dass eine Xförmige Figur entsteht. Von oben her tritt ein kleiner Fortsatz des
Stirnbeines zwischen diese Schenkel ein. Dies Verhältniss, welches sich übrigens auch
an dem von Bischoff (Taf. X IX Fig. 20) abgebildeten Schädel eines jungen Gorillaweibchens
befunden zu haben scheint, könnte so gedeutet werden, als habe auch hier
früher ein supranasaler Schaltknochen gelegen. Das von V irchow als charakteristisch
beschriebene Siehhineinschieben des Nasenbeines mit einem bald spindelförmigen und spitz
zugehenden, bald spatelförmig sich verbreiternden Theil in das Stirnbein lässt sich auch
noch bei manchen alten Schädeln verfolgen, bei denen sich eine Demarcation zwischen
Stirn- und Nasenbeinen erhalten hat. Ich habe ferner schon oben S. 43 angegeben, wie
sich an den Nasenbeinen des alten Männchens im. Bereiche der Sutura nasofrontcdis zuweilen
Schaltknöchelchen beobachten lassen. "Die von V irchow gelieferten Angaben
über die Gestalt der Augenhöhlen am jugendlichen Gorilla-Schädel möge man mit meinen
damit übereinstimmenden, kurzgefassten Aeusserungen auf S. 47 vergleichen.
V irchow giebt ferner an, dass am jungen Schädel sich die Nase im Ganzen eingebogen
zeige und dass die Biegungsstelle an der schmalen Partie zwischen den Augenhöhlen
hinge, dass sich ober- und unterhalb dieser Stelle das Nasenbein verbreitere und
zwar oberhalb unter Bildung eines, vorspringenden Rückens, unterhalb unter Bildung einer
1-Vergl. Bischöfe a. o. a. O. S. 67 und dies Buch. S. 37...