
wenn von der Pracht des Baus selbst noch die Trümmer zeugen, so ist dazu die umgebende Landschaft so
anmuthig, dass der Eigenthümer wohl von diesem Landhause eigenommen gewesen sein kann, wie der
jüngere Plinius von seinem Laurentinum. Der Berg senkt sich hier von reichem Grün bedeckt der Ebene
zu, deren weit hingestreckte Olivenpflanzungen durch den schmalen Streifen des Jeragolfs von den jenseits
nahe Mytilene gelegenen Bergen getrennt werden. Zum ländlichen Ruheplatze, für den doch auch die
nicht zu grosse Entfernung der Hauptstadt allezeit günstig ist, eignet sich keine Gegend auf Lesbos wie
diese Umgebung des wirklich wonnigen Golfs von Jera. Es liegt ein unendlich weicher Reiz auf dieser
Landschaft mit ihren Olivenpflanzungen und schlanken Pappelgruppen, mit ihren Wegen durch das dicke
Gebüsch weindurchrankter Myrten und Brombeeren, mit dem ruhigen tiefblauen Wasser in Mitten, in dem
sich von drüben bewaldete Berge spiegeln. Heute liegen wenigstens Landhäuschen wohlhabender Familien
von Mitilini, ich glaube auch des Paschas, auf der Ostseite des Golfs J), da wo die Hauptstadt am nächsten
ist. Allgemein rühmten mir die Leute auch die Menge und Schmackhaftigkeit der Fische und anderer
Seethiere in ihrem Meerbusen; die von Kalloni seien nicht damit zu vergleichen. Auch darauf legte
man in römischer Zeit Werth, wie wir bei Plinius 2) sehen. Unten in der Ebene gilt hier wie in Kalloni
die Luft für etwas schwer, doch schien man mir trotzdem von Krankheit nicht so viel zu wissen wie dort 3).
In Plakädo schrieb ich eine verstümmelte, an eine Tochter eines Kaisers gerichtete Weihinschrift
ab (Taf. XVIl, 2. Marmor. Inschriftfläche 0,14 M. breit, 0,21 hoch): — ’Acp]po8ixa xqi ircctSl xd) osßaoxo)
Ö£(o Kaioapo? x$ eusp^exiBi. Dann hatte man mir gesagt, dass in einem Hause ein Inschriftstein sich befände
und ich wollte deshalb erst die Rückkehr des Besitzers, eines Türken, erwarten, richtete mich deshalb zur
Nacht hier ein. Als der Mann kam, machte er, ähnlich also wie es in Erissos ging, grosse Geldforderungen,
wenn er seinen Stein auch nur sehen lassen sollte. Ich erreichte einstweilen wenigstens so viel, dass
ich im fast völligen Dunkel hinzugelassen wurde, wo ich mich denn mehr mit Betasten als mit dem Gesichte
überzeugte, dass der Schatz nur eine kleine Grabstele mit Giebel gewiss aus römischer Zeit mit
einfacher Namensunterschrift unter einer Relieffigur des Verstorbenen sei. Da unterliess ich weitere Bemühungen
und ritt ohne eine Abschrift genommen zu haben''am ändern Morgen, obgleich da der Türke
mir noch ein Mal in den Weg zu kommen wusste und seine Geldforderung sehr ermässigte, weiter durch
die liebliche Strandgegend bis zum Nordostende des Meerbusens, wo der gewöhnliche Landeplatz für den
Verkehr mit Agiässo ist. Dip (’s xo Nxfor) nennt man die Stelle. Von hier schlug ich ohne weiteren Aufenthalt
den gepflasterten Weg landeinwärts nach Agiässo ein, der alsbald in die bewaldeten oder mit Oel-
baumpflanzungen bedeckten Berge eintritt. Am Wege, ein trauriger Anblick in all der Herrlichkeit der
umgebenden Natur, hatte sich eine ganze Schaar von Aussatzkranken in kleinen Laubhütten angesiedelt.
Sie bewohnen sonst ein abgesondertes kleines Dorf in der Nähe, aus dem nur die gesunden Kinder, wie
man mir sagte, in andere Dörler in Kost gegeben werden; in diesen Tagen aber waren sie heruntergezogen,
um das Mitleid der zahlreichen Festgäste, die nach Agiässo reisten, auszubeuten. Männer und
Frauen, Junge und Greise und in allen Altern, verkrüppelt und voll Ausschlag kamen sie und bettelten
uns mit heiserer Stimme an. Besonders im Bezirke von Plumäri soll diese schreckliche Krankheit, die
sogenannte Xooßa, türkisch Meskini, zu Hause sein. Bald nach dieser Begegnung fanden wir rechter Hand
hart am Wege ein klares Quellwasser, das sich gleich an seinem Ursprünge zu einem grossen Teiche samhat,
sieh entscheidet (a. a. O. S. 300 f.); seine weitere Vermuthung, die alte Stadt Hiera habe hier gelegen, findet in der Art der
Ueberreste ebensowenig eine Unterstützung. Ich werde eine andere Ansicht über die Lage von Hiera aufstellen.
1) Kentron hörte ich die Gegend nennen, KiSpoc nennt sie aber A n a g n o s t i s a. a. 0 . S. 134 Anm. 8. Dass er den Roman
des Longus grade hier spielen lassen will, is t ein müssiger Versuch. Er bemerkt aber: „efe tÖ pipoc xouxo ¿vacxairr6peva ¿v«<pa(-
vovxoi ¿vioTE xal ipslma dp^aiojv okoSofwov und nach dem V olksglauben Schätze.“ Gewiss gab es auch hier Villen in römischer Zeit.
2) Epist. II, 17, 28 in der Beschreibung des Laurentinum: mare non sane pretiosis piscibus abundat, soleas tarnen et squillas
optiraas egerit.
3) B o u t a n stellt es schlimmer dar.
melt und unter den schattigen Bäumen einen willkommenen Ruheplatz bietet, an dem auch eine Kaffeeschenke
nicht fehlt. Es heisst xo Kapivt. Um Mittag war ich wieder in Agiässo. Hier hatte sich inzwischen,
da der Beginn der Panigyris nahe bevorstand, das Leben um die Kirche bedeutend vermehrt, der
Despotis war eben heute angelangt und am Abend mussten schon auswärtige Familien auf der Strasse
Nachtquartier nehmen.
Auf den folgenden Tag setzte ich wieder einen Ausflug hinunter in die Ebene von Jera an, hauptsächlich
um einen Platz, von dem ich inzwischen gehört hatte, aufzusuchen, den die Leute XaXaxais oder,
wie das x in der gewöhnlichen Aussprache auch hier klingt, Chalatschaes nennen. Man lieferte mir die
Etymologie zu diesem Namen: acp ©o iyjiXaoe 6 x6iro? (weil der Ort verfallen sei). Ich hörte verschiedentlich
erzählen, dass hier einmal eine Stadt gestanden habe; dabei pflegten meine Berichterstatter sogar
deren Häuserzahl anzugeben und malten dann das Bild in verschiedener Weise aus, u. A. wie dazumal
hier im Bogasil) mehr Leben und Verkehr gewesen sei, als heutzutage in der Stadt d. h. in Konstantinopel.
In alle diesem liegt etwas Wahres; XaXaxai*; ist der Ruinenplatz der alten Hiera. Ueber die
Lage von Hiera haben wir keine Angaben in alten Quellen, aber der Namen Jera, der sich als eine Ge-
sammtbezeichnung der Dörfer am Meerbusen gleichen Namens 2) findet, wurde gewiss richtig schon von
P o c o ck e als alt überliefert angenommen3). Es ist auch durchaus wahrscheinlich, dass diese besonders
fruchtbare und heute mit zahlreichen Dörfern besetzte Landschaft an der sicheren Hafenbucht in ältester
Zeit einen städtischen Mittelpunkt hatte, nur konnte sich dieser vor der wachsenden Macht des nahebenachbarten
Mytilene nicht lange in Selbstständigkeit erhalten. Wie Arisba vom nahen Methymna, so
wurde aller Wahrscheinlichkeit nach Hiera frühzeitig von Mytilene überwältigt. Alles, was uns von ihr
geblieben ist, sind die Worte bei Plinius 4): et Agamede obiit et Hiera und dazu nun der Ruinenplatz
von Chalakaes.
Am 24. August ritt ich also von Agiässo den schon einmal betretenen Weg durch die Berge nach
Palaiokipo, dem einen der Jeradörfer, hinunter und von da dann durch die weite ebene Fläche bis nahe
an das Ufer des Meerbusens, wo ich die Stelle von Chalakaes genauer auf dem Plane (Taf. I a) angegeben
habe.
Irgend eine grössere Ruine ist auf dem Boden von Chalakaes nicht sichtbar; Steintrümmer bemerkt
man hier und da und namentlich sind solche auch unter dem jetzigen Wasserspiegel noch kenntlich. Die
erwähnten Traditionen der Umwohner bezeugen aber ganz sicher, dass hier vielerlei Ueberreste gefunden
sind,, die bei fortgesetzter Benutzung des Platzes als Fundort von Bausteinen für die Jeradörfer natürlich
von der Oberfläche immer mehr verschwunden sind. Glücklicherweise hatte man aber grade kurz vor
meiner Ankunft eine grössere Inschriftplatte herausgegraben, die nach Palaiokipo gebracht werden sollte,
aber noch in der aufgegrabenen Vertiefung lag. Man sagte, sie habe auf einem Grabe mit Knochen darin
die Inschriftseite nach oben gekehrt gelegen, damals also schon nicht mehr in ihrer ursprünglichen Stellung.
Der Stein (Taf. XVII, 1. 1,05 M. hoch, 0,38 die Inschriftfläche breit) hat auf beiden Seiten einen
etwas. niedrigeren Rand, die Inschrift steht auf der gegen diesen Rand erhöhten Mittelfläche, einzelne
Buchstaben am Ende der Zeilen sind aber bis auf den Rand geschrieben.
In der Inschrift wird als geehrt von Rath und Volk, doch gewiss der Hauptstadt Mytilene, welcher
in römischer Zeit das Gebiet von Hiera unterworfen gewesen sein muss, ein Bresos, des Bresos Sohn,
1) Der Ausdruck entspricht dem alten eöpwroc.
2) Der ältere italiänische Schiffernamen für die Bucht porto Olivieri, von den grossen Olivenanpflanzungen hergenommen, hat
bei den Anwohnern keinen dauernden Eingang gefunden.
3) Wie dann auch P l e h n billigte a. a. 0 . S. 18. Auf seiner Karte is t Hiera in der Gegend der Skala \ xo Nxfit angesetzt,
wo aber keine Spur einer alten Ortschaft nachzuweisen ist. B o u t a n s Meinung, die Ruinen bei der Mana möchten Hiera angehören,
habe ich bereits erwähnt.
4) n. h. V, 139.