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Die Hörigen und Halblinge der alten Erdschaften, ferner die der neu gegründeten Gemeinwesen, sowie endlich diese selbst streben nach Einfluss und Anerkennung, wodurch sich allmählich auch das Erdrecht selbst wandeln muss. Aber noch steht es in Kraft und regelt die wirtschaftlichen Verhältnisse. Freilich weichen, wie überall unter Menschen, Ansichten über das Richtige ab und Satzungen werden verschieden ausgelegt, auch nicht unverbrüchlich befolgt. Aber sie sind doch vorhanden, sie wirken im Bewusstsein des Volkes und kennzeichnen dessen Art. •Ihre bindende Kraft wird allgemein anerkannt, und Zuwiderhandlungen erregen Ärgernis. Das starke Rechtsgefühl der Leute und ihre Schätzung des Überlieferten lässt es nicht zu, dass mit roher Willkür gegen die ehrwürdige Ordnung verstossen werde. So war es wenigstens noch zu unserer Zeit. Alles Gute wird aber rasch vergehen, wenn die Verbreitung von Zivilisation die Eamilienbande lockert, die Haftpflicht und das Gemeinschaftsvermögen aufhebt. Dann wird namentlich die Jugend sich ablösen und Erworbenes für sich selbst verwenden. Die anerkannte Erdschaft ist Herrin ihrer Angelegenheiten soweit ihre Erde reicht. Die Wahrung ihrer Rechte nach aussen hängt ab, wie bei jeglichem Gemeinwesen, von der Macht, die sie dafür einsetzen kann. Anderen gegenüber sind ihre Erdsassen, voran der Erdherr und seine Häuptlinge, verantwortlich und haftbar, auch für ihre Hörigen und Leibeigenen. Und was die Person trifft, trifft die Erdschaft, obgleich, wie überall, Unterschiede gemacht werden und die Auffassung schwanken kann. Was dem Grossen hingeht, mag der Kleine büssen, Dennoch steht obenan der Grundsatz: Alle für einen, einer für alle. Das übertragen sie ebenso auf Europäer, die sie für einheitlich halten. Manchem Weissen ist Übles wie Gutes vergolten worden, das ein ihm vielleicht gänzlich unbekannter Landsmann vor Jahren getan hat. Uns erscheint das ein Unrecht, dem Afrikaner nicht; er weiss es nicht besserund hält laut seinem Recht zunächst jeden Europäer für den anderen verantwortlich. In der Südsee ist oder war es nicht anders. Also nicht die Familie vertritt den Schuldigen nach aussen, sondern seine Erdschaft; deren Sache ist es, sich am Schuldigen oder seiner Familie nachher schadlos zu halten. Stets wird die Erdschaft verklagt, stets an den Erdherrn oder an dessen Vertreter, den nächsten Häuptling, eine Forderung gerichtet. Der hat mit den Seinen eine Busse aufzubringen. Genügt dazu weder der Besitz des Schuldigen, noch der Familie, noch das Gemeinvermögen, dann wird persönliches totes Eigentum, seien es Stoffe, Rum, Feldfrüchte, Handelsgüter nicht geschont; es ist, mit Ausnahme dessen, was die Hand hält und der Körper trägt, der Erdschaft nach Bedürfnis und Beschluss verfügbar. Von denen, die es dazu haben, werden Beiträge, Umlagen zum Wohle der Gesamtheit eingezogen. Ein künftiger Ersatz wird vorausgesetzt, aber nicht gewährleistet, und fällt wohl immer mehr den einflussreichen als den unbedeutenden Leuten zu. Das ist auch einer der Gründe, weswegen man Besitztümer möglichst verheimlicht, wie anderswo um der Besteuerung willen, und weswegen Kleinleute und Unfreie sich nicht beeifern, welche anzuhäufen. Somit gehören alle Schätze, die im Boden ruhen, unbedingt der ganzen Erdschaft, und bedingt gehört ihr auch alles, was einzelnen aus dem Boden wuchs oder was für Gewachsenes eingetauscht wurde: Feld- und Baumerträge, Handelsgüter. Anders der lebendige Besitz: Menschen, Haustiere, auch Eier. Sie sind unantastbares Vermögen der Person, falls diese eben nicht selbst leibeigen ist, sei sie Mann, Weib, Kind, sei sie frei oder hörig. Über Lebendiges kann die Erdschaft erst nach Abfindung und Zugeständnis des Besitzers verfügen, sonst wäre, wo es um Menschen geht, der Palaver kein Ende. Selbstverständlich gilt dieses Erdrecht nicht innerhalb der Mutterfamilie. Deren Vertreter können beliebig schalten, zumal wo es sich um Unmündige handelt, weil alles Vermögen gemeinsam ist. Man klagt nicht gegen eigenes Blut, aber die Ehefrau- kiagt gegen den Ehemann und umgekehrt. Die Erde selbst gehört niemand zu eigen, weder dem einzelnen noch der Erdschaft. Für aufgeteiltes Grundeigentum fehlt jegliches Verständnis. Es ist so viel überschüssiges Gelände vorhanden, dass es sich nicht lohnt, ein Stück sein eigen zu nennen. Nicht Grundbesitz erstrebt man, sondern Sicherheit bietenden Anschluss an Menschen. Nicht am Stückchen Boden hängt das Herz, sondern an dessen Bewohnern. Der fern Weilende kann stark an Heimweh leiden, aber er sehnt sich nicht nach Triften und Hügeln, nach Wäldern und Grasfluren, die er ehemals durchstreifte, sondern er sehnt sich hach den Menschen, die dort wohnen, zu denen er gehört. Und so nennt er das Heimweh: tschintüngu. Daher ist Vaterlandsliebe allenfalls als Erdliebe oder Heimatsliebe, eigentlich aber als Gemeinschaftsgefühl, als ausgeprägter Bürgersinn vorhanden. Anschluss und Schutz durch Zusammengehörigkeit ist die Grundlage des Daseins, was nicht ausschliesst, dass, wie allerwärts, ein jeder möglichst für sich selber sorgt. Jede Erde mit ihren Gewässern ist eine politische Einheit, ist em Wirtschaftsgebiet, dessen Nutzniessung der Erdschaft im ganzen zusteht, wozu auch gehört, dass jedes in Ehren gestorbene Mitglied in ihr zur letzten Ruhe bestattet wird. Keine Erde ist ringsum scharf abgegrenzt, und jede bietet Raum für viel mehr Bewohner. Doch- werden Ansprüche an Fährstellen, Fischplätze, Quellen, Nutzwälder, sowie an met-all-, ton- oder harzreiche Gründe und sonst wertvolle Ländereien zäh verfochten, obgleich nur um der Nutzniessung willen. Ebenso gehören zur Erde


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