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gewinnt, wenn der Kluge die Schwächen des Gegners recht geschickt zu seinem Vorteil wendet. Wo Mädchen und Frauen in Geschichten eine gute Rolle spielen, werden sie in der Regel ausdrücklich als schön bezeichnet. Dennoch wird in keiner mir bekannten Dichtung die Liebe eingehend behandelt und ausgemalt, obschon ohne sie vieles Erzählte gar nicht geschehen könnte. Die Leute, die mit wirklicher Teilnahme von allerlei berichteten Geschicken hören, die singen und sagen nichts von Liehe, geben Liebesgefühlen nicht öffentlichen Ausdruck, woraus aber keineswegs geschlossen werden darf, dass sie die Liehe nicht kennten. Nur der Erotik geben sie in allen ihren Liedern und Geschichten keinen Raum. In manchen Erzählungen rettet die Mutter ihr Kind aus grösser Gefahr, in anderen tritt die tote Mutter auf, die ihre verwaisten Lieblinge beschützt und leitet, ihren Säugling ungesehen ernährt, in anderen Geschichten hilft das unmündige Kind, das Bedrohliches offenbart, wovon die Seinigen nichts ahnen. Manchmal wird das Kind bloss erwähnt, als ob ein Liebling dabei sein müsste, ohne weiter mitzuwirken. Die Schwester hilft dem Bruder, die Frau dem Manne und umgekehrt. Gegen schlechte Menschen wird Vergeltung geübt, andere ereilt das Geschick ohne Zutun der Rächer. Reissende Tiere werden listig umgebracht, blutdürstige Seelen eingefangen, festgemacht oder totgeschossen, Gespenster mit Salz, Sand oder spanischem Pfeffer geblendet, durch mutiges Draufgehen verscheucht, auf Kreuzwegen niedergerungen. Doch dreht sich nicht alles um den Kampf gegen Böses. In Eulenspiegeleien richtet der Witzbold vielerlei Schabernack an, übertrumpfen sich gegenseitig Männer und Weiber. Auch gibt es gute Wesen, zumeist hübsche Weiber, die junge Männer im Verborgenen so lange mit allem beglücken, was die Herzen begehren, bis ein Verbot übertreten wird. In den Hauptzügen tauchen, wie unten zu ersehen, manche uns wohlbekannte Erzählungen auf. Nichts weniger als unglaubhaft ist den Leuten, dass Tiere in einer gewissen Geordnetheit lebten, dass es hei ihnen ungefähr wie bei Menschen zuginge. Des weiteren bezweifeln sie nicht, dass Tiere sich in menschliche Angelegenheiten einmischen. Am häufigsten sind es wohl Vöglein, die böse Anschläge belauscht oder den Fehltritt eines Mädchens, eine Übeltat, einen Mord beobachtet haben und nachher es aussingen. Nur bleibt da manches insofern unklar, als ja Seelen Verstorbener in Tiere fahren oder Tiergestalt annehmen, ferner lebende Menschen durch Zauberkraft anderer in Tiere verwandelt werden und endlich Hexen als Werwölfe umgehen können. Gleich unseren Kindern fällt es ihnen bei ihrem Wunderhunger und bei ihrer naiven Glaubenskraft nicht schwer, Erzähltes in die Wirklichkeit zu übertragen. Man kann es freilich nicht immer wissen, aber es hat sich doch schon allerlei Merkwürdiges ereignet, und der Augenzeugen gibt es die Menge. So viel Schalkhaftes in den Tierfabeln spielt, so steckt doch wieder manches darin, das ernsthaft zu nehmen ist. Die Einbildungskraft tut sich eine Güte und die Kurzweil hat man obendrein. In allen den von Mund zu Mund gehenden Weistümern, Berichten, Dichtungen prägen sich unbewusste Herzensregungen und geläuterte Lebensklugheit aus, erschliesst sich, vielleicht in ungeahnter Tiefe, das Seelenleben des Volkes. Sie kennzeichnen sein Gefühl für Recht und Unrecht, für Gutes und Böses, für Schönes und Hässliches, sein Hoffen und Streben. In den Erzeugnissen der Phantasie äussert sich, losgelöst von allen zufälligen Umständen, das wahre Wesen der Leute. Wie schon einmal bemerkt: Die Tiere, beweglich wie die Menschen, die gleichen Bedürfnisse befriedigend, den nämlichen Geschicken verfallend, stehen ihnen nahe. Deswegen berücksichtigt man sie. Wird doch beliebten Haustieren der Tod ihres Besitzers förmlich angezeigt. In . solchem Sinne brüllen, heulen, grunzen, quieken, kreischen, schnattern, glucksen, zwitschern Tiere nicht, sondern reden. Ihrer Art gemäss haben sie ein bestimmtes Wesen. Der Leopard ist bösartig und dumm, der Affe pfiffig und leichtsinnig, die Schildkröte verständig, das Krokodil begriffsstutzig, der Büffel einfältig; Spinne, Frosch und Seekuh sind zauberkundig, Antilopen gescheit oder beschränkt, je nachdem, Vögel mit wenigen Ausnahmen klug und gut. Auch Hunde, wenigstens solche von der Jagdmeute, dienen treu und verständig ihren bedrängten Herren. Der Elefant ist weise und Herrscher über die T iere, obgleich die ihm manchmal übel mitspielen. E r steht über dem rohen Herrn des Waldes, dem Gorilla, und über dem launischen Herrn des Wassers, dem Hippopotamus. E r duldet nicht, dass sie und andere Tiere den Kot in einem Haufen absetzen, wie er, sondern zwingt sie, ihre Losung zu verstreuen oder im Laufen fallen zu lassen. Die es doch mit dem Haufen versuchen, schauen ängstlich um sich, ob der Elefant kommt. Sieh nur die Hunde an. — Die Springspinne hat das Netz erfunden, hat es sich aber vom Menschen abschwatzen lassen. Nun muss sie sich ohne Netz behelfen. — Die Bachstelze erfand die Trommel und trommelte nach Herzenslust. Das hörte ein Mann und wollte die Trommel haben. E r wettete mit der Bachstelze, dass er besser zu trommeln verstünde als sie. Als die Sache zum Austrag kam, wurde im Palaver zugunsten des Mannes entschieden, denn der hätte zehn Finger, die Bachstelze nur ihren Schwanz. Der Gewinner nahm die Trommel und ging zu den Menschen. Aber die Bachstelze kann das Tromm ein. nicht lassen, immer wippt sie mit dem Schwänzchen. — Der schwarz- und weissgescheckte Eisvogel hat dem Menschen verraten,


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