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zudem die Barfüssigen einige Merkmale mehr: nicht bloss Kopf, Gestalt, Haltung, Bewegung, sondern in weichem Boden auch Fussabdruck und Schreitweise, also die Spur oder Fährte, die übrigens unter uns in polizeilichen Angelegenheiten ebenfalls recht beachtet wird. Prüft man in einfacher praktischer Weise das Sehvermögen gesunder Augen, so ergibt sich selbst für die keine Überlegenheit, deren Leistungen in der Wildnis vorzüglich sind.*) Die Sehwerkzeuge sind an sich nicht besser, sie werden nur geschickter gebraucht. Denn der Mensch, dessen Leben sich im Freien abspielt, ist ununterbrochen aufmerksam. Ihm Wichtiges erfasst er sogleich. Das zeigt sich schlagend, wenn man beide Geschlechter desselben Stammes zugleich prüft. Die Augen der Weiber sind von Natur gewiss ebensogut wie die der Männer, aber im Freien sind sie nicht brauchbarer als die eines beliebigen Neulings, weil sie nicht geschult worden sind. Es ist zwischen sehen und wahrnehmen zu unterscheiden, gewisser- massen zwischen physiologischem und psychologischem Sehen. Die Aussen- welt spiegelt sich in gleichwertigen Augen gleich gut ab, aber die Auffassung ihres Inhaltes kann, je nach Übung, recht verschieden sein. Ganz wie bei Werken der Kunst: wie viele, die sie beschauen, empfinden völlig, was darin liegt? Hier mangelt Kunstsinn, Schönheitsgefühl, draussen mangelt es an Natursinn, an Gegenstandsgefühl. Wer nicht von Jugend auf vertraut ist mit dem Leben in Flur und Wald der Heimat, wird schwerlich vertraut werden mit dem in der Wildnis. Er mag genau so gute Augen wie der Eingeborene haben, nimmt aber trotzdem die Gegenstände nicht wahr, die diesem ganz deutlich sind. Affen, Biiffel, Elefanten erkennt er ebensowenig wie daheim Hirsche, Schweine, Gemsen, obschon des Fernsehens und des Blickzieles Kundige das unbegreiflich finden. Er hat alles im Auge, er sieht wohl, aber er sondert nicht. Erst wenn die Tiere sich bewegen, fallen sie ihm auf. Ihm ergeht es wie unserem viel verfolgten Wilde, selbst dem scharfsinnigen Hochwilde, das mit dem Winde ganz vertraut auf einen nicht zu auffällig gekleideten bewegungslosen Menschen zuzieht, oder wie dem Jagdhunde, der von ferne im offenen Felde seinen ruhig stehenden Herrn nicht von anderen Jägern zu unterscheiden vermag, gelegentlich auch auf einen runden Stein, einen Holzblock angriffsweise losfährt. Freilich sind die Augen dieser Säugetiere nicht von bemerkenswerter Schärfe. Bloss unsere Babenvögel, auch Bebhühner, Trappen, Enten, Gänse, und in der Wildnis Affen sowie Tagräuber machen im Erkennen des ruhig verharrenden Menschen vielfach eine Ausnahme. In der Nähe scheut jedes Wild, sobald sich die Augen bewegen, die Blicke kreuzen. *) Inzwischen hat Dr. Karl E. Ranke als erster durch fachmännische Untersuchung der Sehschärfe südamerikanischer Indianer diese Befunde bestätigt. In ungewohnter Umgebung empfängt der Mensch eine Fülle neuer Eindrücke, die sich nicht rasch und gleichmässig in die \ orstellungen einordnen lassen und deswegen verwirren, ablenkeD, ermüden. Er sieh und fasst doch nicht auf, findet sich nicht zurecht. Das gilt fut: einen jeden, selbst für den anderswo trefflich Eingeübten. Augen und <^hlrn müssen vertraut sein mit dem, was in Sicht kommen kann. Der Waldmensch ist unsicher in der offenen Landschaft, der Flachländer im Hochgebirge, der Seemann auf dem Festlande. Ebenso umgekehrt. Der jagd- kundigste Indianer oder Buschmann der blachen Steppe müsste erst lernen, im Meere den Wal, in unseren Alpen die Gemsen wahrzunehmen; dort wäre ihm der Fangschiffer, hier der Hirtenhube, selbst die Sennerin über. So muss sich der scharfäugige Vielgereiste erst in jeder A r t von Wildnis einleben. Das kann verschieden lange dauern, je nach seiner Veranlagung, aber nachher tut er es den Eingeborenen gleich. E r kann ihnen alsdann vermöge seiner ausgebildeten Geisteskräfte in der Verwertung der Eindrücke sogar überlegen sein. Das Vollendetste in der Kunst des Wahrnehmens leistet der Mensc , der mit; den Augen gleichsam fühlen, in die Ferne tasten kann. Er merkt es, oh sein Blick über ein gleichfarbiges Stückchen Borke, Fels oder Fell streift, ob ein Blatt, Halm, Steinchen, Erdklümpchen verschoben ist. Wo gröbere Merkmale fehlen, da können ihn noch Reihen winziger, durch Streiflichter markierter Einzelheiten leiten. Er schaut auch nicht beständig gerade darauf, sondern abwechselnd ein wenig daneben/ seitwärts schweifend, um Eindrücke mit noch nicht ermüdeten Stellen der Augen zu erhaschen. Wer diese Begabung besitzt, die von Jugend auf durch mannigfaltige Übung, auch d u r c h Zeichnen und Malen nach der Natur, wesentlich entwickelt werden kann, ist der geborene Beobachter. Ihm entgeht so leicht nichts, auch wenn er sich nicht anstrengt oder wenn er sich'anderweitig beschäftigt. Alle seine Smne sind wach und gewohnheitsmässig auf den Zweck gerichtet. Dazu kommen Geistestätigkeit und Erfahrung, ohne welche Sinneseindrücke ungenutzt bleiben. . _ . , „ .... Menschen, die nichts zu tun haben, als sich gegen Femde aller A i zu schützen und der Wildnis ihren Unterhalt abzugewinnen, müssten eigentlich durchweg vorzügliche Beobachter werden. Zu verwundern ist nur, dass es trotzdem so viele Stümper unter ihnen gibt. Es sollten eben nicht bloss Erfolge, sondern auch Misserfolge getreulich berichtet, es sollten die Leistungen zergliedert werden, verglichen und auf ihr richtiges Mass gesetzt werden. Unsere noch nicht ganz ausgestorbenen Weidmänner leisten daheim nicht weniger als die guten Spurer m der Wildnis. Es sei nur an die zweiundsiebzig Zeichen des hirschgerechten Jägers erinnert.


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