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Sierra Leone ünd seine Zustände. Gemisch von Hypokrisie, Arroganz und Caricatur europäischen Wesens zur Schau tragen. Noch vor Sonnenuntergang warf die „Ni- gretia“ ihre Anker auf der schonen und sicheren Rhede von Freetown, das sich lieblich am Fusse grüner, sehr pittoresker Hügel ausbreitet. Ein so schönes landschaftliches Bild wie hier bietet die west- africanische Küste kaum an einem zweiten Puncte, und selbst der aus Europa kommende Reisende, der noch nicht gelernt hat, in seinen Ansprüchen an tropische Landschaft Mass zu halten, wird durch den Anblick Freetowns auf das Angenehmste berührt. Es blieb uns am folgenden Tage hinreichend Zeit, an Land zu gehen. So Vieles, was ich sah, erblickte ich zum ersten Male, und die fremdartigen Eindrücke der Bevölkerung und der Vegetation stürmten in so wechselreicher Folge auf den Fremdling ein, dass die Erinnerung Mühe hatte, sie alle festzuhalten. Doch fehlte es, namentlich in der Stadt selbst, nicht an europäischen Anklängen. Sierra Leone ist eben eine geordnete, englische Colonie, mit einem General-Gouverneur, einem Bischof, mit Truppen und uniformirten schwarzen Policemen. Die Hauptstadt Freetown hat gerade, mit Namen versehene Strassen, Kirchen, Gouvernementsgebäude, eine Kaserne und eine Anzahl Läden, wie sie sich in allen aussereuropäischen Hafenplätzen wiederholen. Von europäischen Nationalitäten ist die englische selbstverständlich am zahlreichsten vertreten; aber es scheint, dass die Franzosen einen beträchtlichen Theil des Handels in der Hand haben. Deutsche findek man meist nur in untergeordneten Stellungen. Der Stolz Sierra Leones sind seine Missionare, deren es schwarze und weisse und von beiderlei Geschlecht giebt. Ihnen ist wol hauptsächlich der von der schwarzen Bevölkerung erreichte Grad der Ci- vilisation und allgemeinen Menschenliebe zuzuschreiben. Sierra Leone ist ein warnendes Beispiel dafür, zu welchem Zerrbild Naturzustände sich verziehen können, wenn die missverstandene Anwendung schöner und menschenbeglüekender Principien sich ihrer bemächtigt. Wer wäre nicht bestrebt, die edle Denkungsweise zu würdigen, welche den aufrichtigen, von Heuchelei unbefleckten Negrophilen in die Schranken für die farbige Menschheit treten lässt? Aber soll die Gefahr, falsch gedeutet zu werden, uns abhalten, das auszusprechen, was wir im Gegensatz zu der herrschenden Meinung so lebhaft 'empfunden haben und noch heute empfinden? Gar Mancher, der in Europa begeistert ausruft, dass alle Menschen Brüder sind, würde doch stutzen, wenn er den Bruderkuss wirklich ertheilen sollte. Er sollte auch stutzen, ehe er einen Stein auf den Reisenden wirft, dessen Crooboys an Bord. II Ansichten auf Beobachtung und Erfahrung beruhen. Man vergleiche sie mit einander, die Neger, die unter dem Einflüsse ihrer eigenen patriarchalischen Verhältnisse geblieben sind, mit jener Classe von Schwarzen, die in der Treibhaus-Atmosphäre einer unverstandenen, erhabenen Religion, in den masslos angewandten Principien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erzogen worden sind; und man wird sich sagen müssen, dass unsere humanitären Bestrebungen auf falschen Bahnen wandeln. „Jedem das Seine“ ist ein alter, bewährter Spruch, der auch in diesem Falle seine Gültigkeit nicht verliert. Sobald die europäischen Schiffe Sierra Leone erreicht haben, ändert sich die Physiognomie des Lebens an Bord. Die Equipage wird durch eine grosse Zahl von Kru-Negern (Crooboys) verstärkt und die weissen Matrosen erhalten dadurch die von dem Klima geforderte Erleichterung. Denn das Anlegen an einer so grossen Zahl von Plätzen, wie es nun bevorsteht, bedingt täglich oder jeden zweiten Tag die harte Arbeit des Löschens und Ladens, und den stundenlangen Aufenthalt in dem heissen, übelriechenden Schiffsraum. Die Crooboys sind für den Dienst zur See ganz vortrefflich ver- werthbar, äusserst willig zur Arbeit und wol disciplinirt. Für jeden ändern Dienst, der nicht in Zusammenhang mit dem. Wasser steht’, eignen sie sich viel weniger, für Landreisen sind sie kaum brauchbar. Nur das Stehlen betreiben sie gleich gut zu Wasser und zu Lande, und es cursiren die wunderbarsten Geschichten über die dabei angewandte Erfindungsgabe und Geschicklichkeit. Sie verstehen fast sämmtlich einige Worte Englisch, namentlich die auf den Schiffsdienst bezüglichen Kunstausdrücke. Ihre eigene Sprache gilt für nahezu unerlembar; nach der Schwierigkeit, die man hat, nur äusser- lich die Laute eines Satzes mit dem Ohr aufzufassen, möchte ich es. selbst glauben. Ausser diesen Crooboys erhielten wir eine ganze Zahl schwarzer Passagiere an Bord; Männer, Weiber, Kinder. Am Abend des vierzehnten Juni, gegen sieben Uhr, lichtete die „Nigretia“ von Neuem ihre Anker, — sie sollte es zum letzten Male thun. Die Nacht war dunkel, die Luft schwül. Einer unerklärlichen Mattigkeit nachgebend legte ich mich nieder, .aber eine gleich unerklärliche Unruhe trieb mich wieder vom Lager fort. Auf dem Deckhaus des Schiffes fand ich noch einen Theil der europäischen Passagiere, die sich dorthin vor den schwarzen Ladies und .Gentlemen zurückgezogen hatten. Eine kurze Unterbrechung der Fahrt deutete an, dass der Lootse uns verliess; wir dampften wieder mit voller


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