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dem Wege von der Großmutter und rückwärts bis zur Enkelin und vorwärts wird der weibliche Körper unfterblich, — genau so wie der der niederften Lebewefen, die immer nur den unbrauchbar gewordenen Teil der fie bildenden Materie abftoßen. Diefer un- eingefchränkten Beachtung der Phyfis und der Idee der Ewigkeit der Materie entfpricht aber naturgemäß eine urfprüngliche Unfähigkeit, der Seele irgendeinen pofitiven und aktiven Wert beizulegen. Denn wenn der von der Mutter abgefpaltete Leib, das Kind, das Fortleben und den Lebensinhalt der Mutter verkörperte, erfüllte, -lij was wollte dann noch die Mutter? Ich habe von Berbern und Tuareg über diefe Dinge Anfichten von fo eminenter Klarheit und erfchütternder Einfachheit vernommen, daß ich tief ergriffen war. In der Tat: die Verherrlichung der irdifchen Materie kann keinerlei Raum geben für das Exiftenzrecht der unkörperlichen Seele. Die entkörperte Seele gehört ä priori der tel- lurifchen Weltanfchauung und ihr ganz allein an. Demgegenüber erfährt die Durchbildung der Phyfis alle nur erdenkliche Differenzierung. Ganz klar tritt das hervor bei der Betrachtung der Paarungs- und Ehefitten. Es ift felbft- verftändlich, daß die Frau den Ehemann wählt. Sie w äh lt ihn. Es ift auch klar, daß, wenn ihre Wahl getroffen ift, er in ih r Heim zieht, aus feiner Horde ausfcheidet und in ihre Horde eintritt. Noch weiter aber ift klar, daß er, der Erwählte, der Frau geiftig und bindungsgemäß um nichts näher fteht als etwa ihr Bruder. Im Gegenteil. Von den weltlichen wie von den öftlichen Hamiten haben wir oft genug gehört und wiffen wir, daß die Frauen ihren Männern überall weniger zugetan find als den eigenen Brüdern. Der Unterfchied in der Behandlung von Bruder und Gatte ift durchgreifend. Von Bifcharin wie von Tuareg hörte ich hierüber viele Klagen. Ferner ergibt fich hieraus aber auch eine recht wenig genaue Eheführung, Tagen wir Treue der Ehefrau. Die Frau wählt fich den Gatten nach ihrem Gefchmack, d. h. den für fie erreichbar Tüchtigften. Nicht feelifche Eigenart, nur phyfifche Tüchtigkeit ift entfcheidend. Dem entfpricht ganz natürlich, daß fehr leicht eines Tages ein Mann in den Gefichtskreis der Frau tritt, der für iie viel fchätzenswerter, viel begehrenswerter ift, und da fie ja von der Jugend an in dem Grundfatz groß geworden ift, daß die Wahl in ihrer Hand liegt, fo ergibt lieh daraus ganz einfach, daß iie Extravaganzen durchaus geneigt ift und der Geift der Horde dies nur zuftimmend mit aniieht. Ein Gegensatz der tellurifchen zur chthonifchen Kultur beruht darin, daß das Eheweib in erfterer bedingungslos treu, in letzterer unter dem Schutze der „Gefellfchaft“ zur Untreue berechtigt ift. Aber noch ein anderer tiefgreifender Unterfchied, der ja nicht nur für das Gefellschaftsund Familienleben beftimmend ift, tritt kartographifch fixierbar hervor, nämlich in dem bei der Gattenvereinigung entfeheidenden Wertmaßftab. Der Mann der tellu r ifchen K u ltu r beftimmt feine Frau oder die Sippe beftimmt fie ihm, und zwar durchaus im Hinblick auf ihre Pflicht, heiliges Gefäß der Seelen der Sippe zu werden. Die Frau der chthonifchen Ku ltu r w ählt ihren Gatten. Das heißt: in der einen Kultur ent- fcheidet die Beitimmung entfprechend einer „Ordnung“ (ich bitte den Sinn diefes Wortes recht tief und in feiner ganzen Eigenart zu erfaffen), in der ändern entfeheidet eine „W ah l“ . — Die Wahl der Frau fetzt die Schöpfung eines Wertmaßftabes voraus, der als ein chthonifches Kulturfympton zu bezeichnen ift, das der reinen tellurifchen Kultur fehlt. Die Frau wählt nämlich nach ihrem Gefchmack, d. h. den „Tüchtigften*, d. h. den, der die meiften Köpfe der Feinde erlegt, der die höchfte Leiftung der Jagd vollbrachte, den, der eben die fchätzenswerteften Fähigkeiten zeigt. Dazu gehört auch der von der edelften Abftammung. Der Mann ift in der chthonifchen Kultur der Frau unbedingt der, der ihr „am heften fteht£. Was fetzt nun die Frau dem gegenüber? Es ift ganz klar, daß alle die Eigenfchaften, die hier auftreten, allein fchon dadurch, daß fie nur durch den Superlativ charakterifiert werden können, phyfischer Natur find. Dem kann die Frau auch nur phyfifche „Werte gegenüberfetzen. Der vornehmfte, die Phantafie des Mannes reizende (ebenfalls fuper- lative) Begriff ift der der „Erftfchaft“ . Die Frau der chthonifchen Kultur ftellt der Tüchtigkeit des Gatten alfo die Jungfrauenfehaft gegenüber. Dadurch wird fie wünfehens- wert. Eine Frage der Phyfis! Nur eine folche! Oft geht diefes recht merkwürdig zu. Von den Hamiten des Nilgebietes hörte ich mehrere Erzählungen, die mir dadurch intereffant find, daß ein Königsfohn m onatelang bei einer Prinzeffin fchläft; jede Nacht „umfchlingen fie fich mit den Beinen“ und „faugen fie fich feft an den Lippen“ . Nach Monaten erfolgt die Entdeckung. Der Prinz wird um ein Haar geopfert. Da wird sein Prinzenrang entdeckt. Die Hochzeit wird gefeiert. Nach den üblichen Zeremonien erfolgt das Beilager. Und in der Hochzeitsnacht „fand er eine undurchbohrte Mufchel, und das Blut netzte die Leine wand“ . Charakteriftifch ift, daß in folchen Erzählungen die Fürften dann fpäter mit verfchiedenen anderen Prinzeffinnen Abenteuer erleben, die das Eheglück nicht ftören. — Summa summarum Motive, die aus Taufend und einer Nacht genugfam bekannt find. Demi-vierges! Nur Phyfis — nur Begriff! Mir ift es wichtig, diefen unüberbrückbaren Gegenfatz zwifchen chthonifcher und tel- lurifcher Kultur fcharf zu präzifieren. Die nach feelifchem Aufbau ftrebende tellurifche Kultur kennt keine körperliche Unberührtheit, fondern nur die Ordnung, und beftändig ift ihr nur der Rhythmus der durchfeelten Körperlichkeit. Körperlichkeit ift ihr nur der Ausdruck der Seele, der Idee. Die chthonifche Kultur geht aus von Phyfis und Maß, von Wertung und Körperlichkeit, von entfprechender Wahl, und führt zum Begriff. Die tellurifche Kultur gipfelt in der Sippe, im Heimatgefühl, in der Idee der heiligen fpen- denden und nehmenden Erde. Ihr Wefen ift keimhaft. Die chthonifche Horde findet


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