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Jicher in ihrer Art großzügigen Kultusübung verfchieden. Die Zahl ift viel zu klein und zwingt uns zu der Annahme, daß nur ganz befonders durch irgend etwas Ausgezeichnete in dem heiligen Bildbezirk Aufnahme fanden. Damit wird nun aber jede folche Stätte zu einem in die große Natur hinein- gefchaffenen Tempel, jede der Felszeichnungen zu einer bedeutenden Angelegenheit. Alle jene Auffaffungen der alten Zeit, die in ihnen nur Spielereien von Hirten, Kritzeleien und Kinderübungen erblicken wollen, zerfallen in ein Nichts. Wer vor diefen Bildern fteht, wer die Sorgfalt erkennt, mit der die tiefen Linien in den Fels gefchnitten find, wer einen Sinn hat für Monumentalität überhaupt, der kann nicht anders, als die Großartigkeit diefer Tempel der Natur bewundern. DER WIDDERKÖPFIGE SONNENGOTT (Vgl. zumal Tafel 8) Natürlich ift mit dem im vorigen Abfchnitt Gefagten nur eine Möglichkeit, die älteren Felsbilder der Steinzeit zu verftehen, gegeben. Und auch diele Sinngabe würde fich nur auf einen Teil der Bilder anwenden lallen. Denn viele Bilder ftellen Dinge dar, die ganz andere Bedeutung verraten. Wenigftens von zweien möge folche abgelefen werden. Auf Tafel 8 gebe ich eins der fchönften Felsbilder des Sahara-Atlas wieder. Dem Stil nach muß es unter die fortgefchrittenften gerechnet werden. Die Ausführung der Linien ift technifch hervorragend gefchickt. Die Einzelheiten find genau. In älteren Stücken ift je nur ein Vorder- und Hinterbein der Vierfüßler und diefes ohne Fußabfchluß gezeichnet (fiehe Tafel 1 und Tafel 4). Das Bild Tafel 8 zeigt forgfältig ausgeführte Klauen und Finger. Auf älteren Stücken treten die Abbildungen ordnungslos auf. Hier find fie ausgezeichnet gruppiert. Es liegt alfo ein Beleg aus der künftlerifchen Höhe Nordweft- afrikas vor. Auf der linken Seite des Bildes fehen w ir einen erften größeren, ausführlich behandelten Widder, darunter einen kleineren zum Teil zerftörten Schaf bock und ein noch kleineres weibliches Schaf. Auf der rechten Seite ein Doppeltier, das mit feinen beiden Rücken aneinandergelegt und von einem Schwanz umfchlungen ift. Darunter lind zwei unkenntliche, heute ftark abgewitterte kleine Tiere abgebildet. Zwilchen beiden Gruppen in der Mitte des Bildes und mit dem Kopf an die Nafe, mit der rechten Hand an das Kinn des Widders ftoßend, ift ein Menfch dargeftellt, der nicht unbedingt als Mann aufgefaßt werden muß. Denn auf anderen Bildern folcher Art (ich denke an Enfuß II unteres Bildermaterials) fcheint eine Betonung künftlich verlängerter labia majora angedeutet zu fein. Der Menfch hat die durch je drei Finger charakterifierten Hände erhoben. Eine ganz ähnliche Stellung hat der auf der rechten Seite der Tafel 2 gerade noch zu fehende, vor einem auf diefer Abbildung aber nur noch mit den Hörnern hereinragenden Bubalus ftehende Menfch, eine ähnliche der auf Tafel 6 oben vor dem Widder ftehende, eine ganz gleiche endlich die Frau auf der Titelvignette diefes Teiles (S. 23). Diefe Stellung ift auf den nordweftafrikanifchen Felsbildem, auf denen der Menfch er- fcheint, die häufigfte, die immer wieder gewählt wurde, wenn der Menfch mit einem Bubalus oder mit einem Widder gemeinfam komponiert wurde. Es ift die Stellung meiner Zauberformeln murmelnden Pygmäenfrau aus dem Urwald, eine Stellung der Anbetung in alter Zeit. Der größere Widder ift charakterifiert als ein mythologifches Wefen. Er hat ein Halsband und auf dem Kopf einen kürbisähnlichen Kreis, von dem fünf Striche nach der Mitte zurückgebogen find; der kleine Widder ift ihm ähnlich. Solche Widderbilder mit und ohne Menfchen in anbetender Stellung nehmen eine hervorragende Stellung in der Mitte der Felsbilder Nordweftafrikas ein. Man kann diefe Gruppe : der anbetende Menfch vor dem die Scheibe auf dem Haupt tragenden Widder als das Bezeichnende im Kompoiitionswefen diefer afrikanifchen Kunft, als das Mittel- fymbol der nordweftafrikanifchen Felszeichnung erklären. Ganz unerwartet erhielt ich eine zu diefer Darftellung augenfcheinlich gehörende Mythe von den Kabylen Algeriens. Ich gebe hier aus der Atlantisausgabe unferer Sammlung affikanifcher Volksdichtung (Bd. I S. 1 o ff. und S. 41 ff. und S. 70 ff.) die entfprechenden Traditionen. Bei diefen Gebirgsftämmen entdeckte ich einen Schatz uralter kosmogonifcher Fabeln, die noch offenkundige Beziehung zu der von Diodor und anderen Klaffikern des Altertumes berichteten göttlichen Fabellehre zeigt. In diefer Sage von der Schöpfung der Welt fpielt eine „erfte Mutter der Welt“ eine fchöpferifche Rolle. Von ihr und der Entftehung der Schafe fowie über die Bedeutung der Widder handelt das Stück 5 der kabylifchen Schöpfungslegende, welches folgendermaßen lautet: Die erfte Mutter der Welt mahlte einmal auf ihrer Handmühle das Mehl, milchte es mit Waffer, und um die Stunde T ’hza formte fie den Teig in Geftalt eines weiblichen Schafes. (Die Stunde T ’hza ift etwa 9 oder l/s loUhr morgens.) Die erfte Mutter der Welt hatte an den Händen Ruß von den Töpfen gehabt. Deshalb wurde der Kopf der Tiere fchwarz, und der Leib, Hals und Beine weiß. Das Schaf aus Mehlteig legte fie darauf in den Spelt, der neben dem Mahlftein lag und von dem Korn weggeblafen war. Es war Gerften- fpelt. Der Spelt blieb fogleich an dem Teigtier hängen und wurde zur Wolle. Am anderen Tage machte die erfte Mutter der Welt aus Waffer und Mehl Teig und formte den Teig in Geftalt eines Widders. Die Hörner waren nicht nach oben gerichtet, damit die Menfchen sich nicht daran ftechen. Sie machte die Hörner deshalb gekrümmt und die Ohren wie eine Schnecke, eines rechts und eines links. Als fie den Teigwidder in den Spelt legen wollte, klang aus dem Spelt: „bäh, bäh, bäh.“ Das kleine Schaf, das


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