
Schicksals von Annam und Birma. Wahrlich ein interessantes, in mancher Beziehung belehrendes
Schauspiel!
Siam erscheint, aus der europäischen Vogelperspective betrachtet, als ein schwaches Königreich,
das nach seiner internationalen Bedeutung höchstens in die dritte Reihe der Mächte gestellt
werden kann. Verschieden gestaltet sich jedoch die Ansicht über Siam im Hinblick auf die zukünftigen
Interessen Russlands an der Renaissance von Ostasien. Bedenkt man, dass das kleine, selbständige
Reich im Getümmel der Verheerung, welches die weisse Rasse über den Orient gebracht hat,
einzig noch unversehrt geblieben ist, so kann und darf man ihm von ganzem Herzen volle
Unabhängigkeit, gesunde Entwickelung, Gedeihen und Glück wünschen. Kommt es anders, so
werden wir es~ bitter bereuen müssen. Jede Scholle Asiens, die von Abendländern gewaltsam
annectirt und ausgesaugt wird, ist gewissermaassen Russland entrissen und entfremdet Solange
die Ordnung der Dinge bleibt, wie sie ist, wird sich allmählich von selbst alles zu unserm
Vortheil wenden. Wenn nur nicht die Eindringlinge den uralten Grundbau von Asien ins
Schwanken bringen und ins Verderben stürzen!
Blaue Funken von der Grösse einer Nuss flimmern in den Tiefen ringsumher. Mondlose
sternbestreute Finsterniss hüllt die stumme Ferne ein. Siehe, da hat ein grünlicher Flammenstreifen
an dem sich ins Unendliche dehnenden Horizont schon mehrmals versucht, den Wogenabgrund
zu durchzucken. Diese Zuckungen nehmen unmittelbar hinter uns in dem endlosen Gewinde der
Schraube erst eine orängerothe, dann eine violette und schliesslich eine, blaue .Färbung an. Im
Osten leuchten, Lämpchen gleich, rosenrothe Feuer auf, dann mit einem male taucht purpurroth,
aber noch als unvollkommene Scheibe, der Mond empor und- giesst auf den Ocean seine gelben
Strahlenfluten aus.
Dem verhältnissmässig wenig bekannten Meerbusen vom Siam winkt eine grosse Zukunft.
Je länger je mehr hört man von ■ dem Plane verlauten, den Isthmus von Kra zwischen Malakka und
Siam zu durchstechen. Dann wird der Weg nach Indochina und dem Himmlischen Reiche sowol
von Indien als von Westeuropa aus für Dampfer mit einem Schlage um volle drei Tage kürzer.
Für Singapur wäre es allerdings kein Gewinn, aber im ganzen erwächst daraus den Engländern
auch kein Nachtheil; ihre Handelsinteressen an den Küsten Asiens haben ja riesige Verhältnisse
angenommen! Wird der neue Kanal, der so grosse Bedeutung hat, wirklich ausgeführt, so wird
eine der ersten Folgen seiner Eröffnung sein, dass man den Straits-Settlements die nordmalaiischen
Länder einyerleiben wird, Länder, die zur Zeit noch nach Bangkok Tribut zahlen. Dann wird
Siam von Europäern überschwemmt werden. Die Eroberung der südlichen Grenzgebiete Asiens wird
diesen ohne grosse Schwierigkeit gelingen, denn sie gehören einer Rasse an, die viel unternehmender
ist als sogar die Chinesen. Auf diese Weise wird sich ein neuer breiter Weg aus
den bengalischen Gewässern in die Meere der gelben Rasse eröffnen. Die Eindringlinge werden
dieselben mit verdoppelter Energie zur ungelegenen Zeit aus ihrem Schlafe rütteln, unterjochen und
ausbeuten.
Die französischen Ingenieure geben sich alle Mühe, die Mittel zu ihren Arbeiten hauptsächlich
vom König von Siam zu erhalten, der jedoch durch diese fremde Idee nur zu Schaden
kommen kann. Für dieselbe, soll sich der alte Lesseps ausgesprochen haben. Sein Vaterland ist
augenscheinlich berufen, die Gewalthaber am Menam in den Kreislauf der weltgeschichtlichen
Ereignisse, die jedoch für schwache Völker öfters verhängnissvoll sind, hineinzuziehen. Im
17. Jahrhundert rüstete Ludwig XIV. mehrere Expeditionen nach Siam aus, in der phantastischen
Absicht, daselbst das Christenthum einzubürgern. Sie begannen mit dem höflichen Austausch von
Gesandtschaften und den üblichen diplomatischen Lügen, endeten jedoch mit heftiger Verfeindung
und Blutvergiessen. Die vorübergehende, unaufrichtige und noch dazu halb fictive Verbindung
ging auf lange Zeit in die Brüche und löste sich in gegenseitiger Erbitterung auf. Die Herstellung
besserer Beziehungen zu Europa auf Grundlage beiderseitiger commerzieller und zweifelhafter politischer
Vortheile gelang in der Folge natürlich Grossbritannien. Wie leicht wäre es indessen schon
vorher gewesen, unter der sanften gastfreundlichen buddhistischen Bevölkerung gerade das Gegen-
theil zu erreichen, wenn man sich nur alles Fanatismus und Rassenhochmuths enthalten hätte!
Man überzeugt sich davon gründlich beim Lesen der merkwürdigen Tagesberichte der Missionare
(vorzugsweise der gelehrten Jesuiten), die zu jener interessanten Zeit das noch mittelalterliche Siam
besucht hatten. Dieses Land hatte damals gerade seinen Winterschlaf hinter sich, zeigte sich für
die abendländische Civilisation empfänglich und streckte Frankreich mit inniger Freundschaft seine
Hand entgegen. Die ersten Schriften in Europa über diesen Gegenstand sind nun fast eine
bibliographische Rarität.
Die Schuld der Europäer, die es damals nicht verstanden, sich das Zutrauen der treuherzigen,
in ihrer Art gebildeten Heiden am Menam zu gewinnen, bestand in der Beschränktheit ihres
Gesichtskreises gegenüber der Weite der Religionsanschauungen bei den letztem. Der Beherrscher
von Siam baute seinen theuern Gästen Kapellen, liess die Empfangsräume mit goldenen Cruci-
fixen schmücken, übergab gefangene Annamiten den französischen Instructoren der einheimischen
Truppen, damit man sie nach Belieben zum „abendländischen Glauben“ bekehren möge, er selbst
liess sich jedoch nicht taufen . . . Anstatt durch Sanftmuth zu wirken, betrieben die Ankömmlinge
ihre Sache rein nach der formalen Seite und aus materialistischen Motiven. Ein grösser Erfolg
stellte sieh nicht ein, worauf es auf die roheste Weise zum Bruch kam.
Wäre die Aufgabe anders angefasst worden, so hätte das Missionswesen in jenen Ländern
sicher auf eine glänzende- Laufbahn rechnen können. Es wurde z. B. in der Hauptstadt von
Siam ohne jeden Einspruch ein- Priesterseminar errichtet, das zur Blüte gelangte. Die Unterrichtssprache
an dieser Anstalt war das Lateinische. Gegen vierzig Indochinesen verschiedener Abstammung
(Cochinchinesen, Birmanen), ja selbst Japaner studirten dort Theologie. Die hier ordinirten
und in ihre Heimat entlassenen Neophyten hätten mit der Zeit die Grundlagen der Lebensordnung
ihrer Landsleute allmählich umwandeln können. Der König von Siam las die Evangelien in einer
für ihn besorgten Üebersetzung, hatte in seinem Schlafgemach ein Crucifix, verehrte den Namen
des Herrn, war den christlichen Predigern behülflich und herzlich zugeneigt und wollte ihnen gern
die Mittel geben, in das Himmlische Reich vorzudringen — und mit einem solchen Gewalthaber
Asiens unterhielten die Vertreter der europäischen Cultur keine innigen Freundschaftsbeziehungen!
Offenbar darf man dafür nicht den Orient verantwortlich machen. Die hartnäckigen Holländer,
so gut wie die damals noch schüchternen Engländer oder die Portugiesen, die zu jener Zeit
bereits ihr Ansehen eingebüsst hatten, verkehrten allerdings schon recht viel mit Indochina,
aber fast nur als Kaufleute. Siam fand es natürlich schmeichelhaft, mit einem mächtigen Königshofe
des Abendlandes in Allianz oder doch wenigstens zu einem Einverständniss gelangen zu können,
Frankreich aber verschmähte es aufs gerathewohl, seine Interessen an den fernen Küsten wahrzunehmen.
Ein interessantes Beispiel, wie nützlich und selbst nothwendig es in solchen Fällen ist,
die Zukunft mit mehr Scharfsinn zu durchdringen und in der Politik auf Jahrhunderte vorauszuberechnen
!
Das Geschwader liegt vor Anker, aber von einem Ufer ist nichts zu sehen. Selbst in der
Ferne treten die Berge nur in blauen Duftumrissen seitwärts hervor. Das vom Verdeck aus un-
Orientreise. II. . 45