
Die Colonialmächte des europäischen Westens haben, nicht ohne gegenseitige Missgunst und
Feindseligkeit, die besten Küstengebiete des vielrassigen Orients; unter sich.getheilt. . Solche Städte
mit welthistorischer Handelsbedeutung, wie das auf einer kahlen Felseninsel gegründete Hongkong,
oder die „Löwenstadt“ Singapur, sind beredter als alle Beweise für die unermüdliche Unternehmungslust
der Europäer gegenüber der asiatischen Lethargie. Aber haben die Pioniere der Civilisation,
die sich jetzt von den besten Säften des grössten Erdtheils nähren und, solange es angeht, Hunderte
von Millionen menschlicher Wesen.wirthschaftlich unter ihrem Joch halten, haben sie auch
das volle Vertrauen auf zukünftigen Erfolg? Leben und weben slpí nicht über der Tiefe eines
Abgrundes? Schweben sie nicht in sieter Angst, die Steine könnten ins Rohen gerathen und den
Sturz in den Abgrund unvermeidlich machen?
Sobald einmal der Orient äusgeschlafen haben wird, aufgestört durch dieselben ruhelosen
Elementé der weissen Rasse, die ihn im Princip verleugnen, sobald er, alten Recken gleich,
urgewaltige Kraft in sich verspüren und ihn die Lust anwandeln wird, ein Wort mitzusprechen:
dann wird er mit einfachen Drohungen,, roher Gewalt und gelegentlicher oberflächlicher Dämpfung?
seiner aufrührerischen Bewegungen nicht mehr zu beschwichtigen sein. Darum ist Russland eigentlich
das glücklichste Los zugefallen, seine Kräfte in aller Stille in Steppen und Einöden zu stählen,
in Erwartung des Kampfes zweier Welten, in welchem keiner von beiden alian die endgültige
Entscheidung gehören kann.
Das feindliche Eingreifen in eine überseeische rassenfremde Lebensordnung, die Ausbeutung
Asiéns zu Gunsten selbstsüchtiger Vorurtheile, ist uns erspart geblieben. Wir sind über zwei
Jahrhunderte daheim geblieben . kann man doch unser natürliches Zusammenfliessen mit
Turkestan, mit dem Ussuri- und Amurgebiet nicht politische Eroberungen nennen — wir sind
daheim geblieben in unserer traditionellen Sorglosigkeit und machtbewussten Passivität, während
der Stille Ocean zur Arena des westeuropäischen Andrangs auf Fremdvölker von altbewährter’
Staatsorganisation und unzweifelhafter ethischer Cultur geworden ist
Die Resultate sind klar. Die Eindringlinge haben, soweit es möglich war, den Orient gekränkt
und entthront In welches Land sie auch, Geldes und Gewinnes halber, einbrechen, es
wird ihnen niemals zur Heimat, zu welcher z. B. dem Russen bald jede asiatische Grenzprovinz
wird; der Orientale gilt ihnen nie als Bruder nach göttlichem und menschlichem Recht; die
Colonie ist für sie ein Land freiwilliger Verbannung, das Volk drüben aber R j eine Heerde Vieh.
Dieses kommt aber nach und nach zum Bewusstsein des Werthes einer solchen empörenden Weltanschauung
und zahlt seinen „Lehrern“ mit verdoppelter Feindschäft heim. Wo aber soll es einen
Schutz und Hort gegen den Fremden, den Feind suchen?
Die mythenschaffende Bildkraft der stummen Volksmassen schlummert nicht. Je weiter West-v
europa in Asien gewaltsam Vordringen will, in um so lichterm Glanze strahlt dort im Munde der
Ueberlieferungen und der in den Bazaren gesungenen Mären der Weisse Zar. Woher stammt die
Vorstellung von seiner Existenz? Woraus erklärt sich der Zauber, der seKon im Namen liegt?
Im Dämmern unserer mittelalterlichen Vergangenheit wird in Wahrheit das Geheimniss und
der Ursprung dieses Glaubens, der Schaffung dieser halbmythischen Gestalt liegen. Als nach
schwerster Demüthigung, nach Strömen Blutes das christliche Russland aus Staub und Elend sich
zu einem organisirten Gesammtstaate zusammenzuschliessen begann, bei greller Amalgamirung
von Iran und Turan, r-- da gelang es unsern besten Fürsten, unsern gottgefälligsten Kirchen-
hierarchen, den damaligen Herrschern des Orients durch ihre moralischen Eigenschaften zu im-
poniren. Sie verstanden es, dem mongolischen Sieger ebenso wie den rassenfremden Elementen
des Wolgagebietes, wo unsere Sprache und Lebensart allmählich angenommen wurde, Gefühle der
Ehrfurcht einzuflössen. Zu jener Zeit der schwersten Prüfungen, unter der Herrschaft der Dschingischaniden,
die sich aus Indien and Tibet, Indochina und dem Himmlischen Reich, aus Samarkand,
Afghanistan und Persien ein unermessliches Reich büdeten, eroberten uns unsere edelsten
Vertreter aus dem Geschlechte Rurik’s auf geistigem Wege die Sympathien der asiatischen Völker
Was aber einmal auf eineig.k> empfänglichen Boden gefallen ist, wie ihn die Phantasie und
das Gefühlsleben des Orientalen bieten, vergssf^ich nie; wieder; es schlägt Wurzeln, wächst
und trägt Früchte. Wir sind dort, an unsern endlosen Grenzen, mächtig, nicht etwa nur
durch die Verwegenheit der Kosaken in der Vergangenheit 'und Gegenwart, nicht etwa nur
durch unsere Bereitschaft, dort Kriege zu führen [wovor uns Gott behüte!)";' sondern hauptsächlich,
ja fast ausschliesslich durch unsern guten Ruf, der Asien von einem Ende zum ändern
durchflogen hat und heute noch erfüllt, durch den Ruf des gerechten Lebenswandels und der
edeln Thaten mancher Vertreter einer längst dahingegangenen Generation. So weithin durch Zeit
und Raum leuchten dip: Strahlen vom Grabe derjenigen, die für ihr Vaterland ein weitumfassendes
Verständnis® und ein innigliebendes Herz gehabt hatten. Gar manche Sterne sind verblichen, aber
jener Abglanz dringt noch immer über das uferlose Meer der Unendlichkeit
. . . . Auf diesem vor uns. sich eröffnenden Ungeheuern Gebiete sich hoch einmal mit den Religionen
Indiens zu befassen, die hier in äussere Verhältnisse verpflanzt worden sind, die ihnen von
Haup-jäus ganz frehid waren und unter denen sie dennoch starke Wurzeln zu schlagen wussten,
■ » S i n neuem unter der Riesenanzahl der dortigen Cpltusobjectefi unter T.émtljtfnmmern und Bä;S-
re li^ e in e K u # zu finden, die mit dem Stempel désijjéhèrsinnlichen gekennzeichnet ist: schon das
ist, eine wahrhaft entzückende Geistesarbeit für jefcn Freund dçr Archäologie, für den Aesthetiker,
a^1<:r auc^ für jeden Wahrheitsforscher;;; der nach fassbaren Gründen für die. Erkenntniss sucht; ’dass
die Kraft des Gefühls und des Glaubens, also das, wodurch im edeln, arischëft Sinne dés Wortes
der enraient friedfertige Hindu gross ist und sich in seinem Element bewegt, die Gesetze des
Rautoes und der Zeit nicht kennt und überall schafft, wohin immer sie getragen wird. Wie
wäre sonst das prosaisch angehauchte Japan dazu gekommen,; seine eleganten Tempelhallen Buddha
zu Ehren mit den kostbarsten Lack- und Bronzearbeiten zu füllen?TJa, wären sonst von dort aus
die gefahrvollen, vom geistigen Bedürfniss bedingten Züge" nach dem verschlossenen Korea unternommen
worden, das vor einigen Jahrhunderten in hoher Blüte gestanden und sich unter dem
Einfluss^ der aus manchen asiatischen Ländern hervorleuchtenden Sanslmt-Ciyilisatäon, in Form
buddhistischer Bücherweisheit einer verhältnismässig tiefen Bildung é r f fe ü S ? ^
_ Die geistigen WechsdbeziehungenSitTdenen das gaîize Altèrthum'''und das Mittelalter
hindurch der Orient unter sich geständen hat, mögen sich, vom europäischen Standpunkte aus/
als ziemlich unerheblich darstellen, aber allein schon die Thatsache iixres ununterbrochenen Bestandes
und ihrer Einwirkung,'.auf den Gang der Weltgeschichte ist nach meiner Ansicht für uns Rüssen,
von unserm culturpolitischen Standpunkte aus, viel wichtiger als der Kleinkram, aus weichem sich
die vön ur.s so eifrig studirte europäische Geschichte zusammensetzt.
Dort, in dem von ..Europa ignorirten Asie::, -haben die Völker allezeit sich von mystischen:
Regungen dürchbebt und hinangezogen gefühlt zu den ätherischen Regionen der Andacht und des
Gebetes, zu jenen lichten Räumen, wo vgr den göttlichen Mächten der Nationalhass verstummt
und die Bruderfehden,, der Völker schweigen. Tiefe ‘Stille weht uns!aus vielen, ein« durch
wilden Aufruhr zerrissenen, gpilkreiehen Ländern entgegen, wo von dem durch blutlose Opfer
verehrten Altäre herab die Augen des in Stein gehauenen,, in Holz- geschnitzten oder in Metall
gegossenen Schakya-Muni voll Sanftmuth und mit geheimnissvollem Lächeln die herbeiströmende
Menge anblicken.
Orientreise; II.