
Thatsächlich ist es in den lamaistischen Ländern herkömmlich, an bestimmten Tagen des Jahres
(in Transbaikalien zur Sommerszeit, zum Lobe Maidari’s, des zukünftigen Buddha) genau in derselben
Weise die „Bur-
chane“ (die Götter) auf
Wägelchen herumzuführen
, vor die man
sinnbildlich Holzpferdchen
spannt In den
ersten Jahrhunderten unserer
Zeitrechnung sahen
buddhistische Pilger aus
China schön in Chotan
Processionen mit den
heiligen Bildern des
„ Gott - Lehrers “ zwischen
Bildern von
Brahma und Indra.
Zehn Uhr morgens.
Wir haben uns zu lange
im Tempel von Madura
aufgehalten. Der Oberpriester,
ein stämmiger
Greis mit schelmischem
Lächeln, geleitet die erlauchten
Reisenden zu
den Equipagen und hält
uns da eine kleine Rede
über eine zwischen Russland
und Grossbritan-
nien mögliche Freundschaft
in Asien. Wenn
man bei der jetzt herrschenden
Hitze den zerstreuten
Blick über den
Haufen Tamulen und
den schimmernden grotesken
Figurenschmuck
der Thore werfen lässt,
vermag man sich kaum
•< v.AUS. DEM s c h l ö s s e t ir u m a l a ’S. Rechenschaft zu geben,
warum diese Rede hier
so ganz zur Unzeit gehalten wird. Männer, von, ziegelrother Farbe mit Rosenkränzen am Halse und
Ringen an den nackten Füssen, die durch Gehänge unförmlich verlängerten Ohren der schon hinlänglich
unschönen Weiber mit orangefarbenen Gesichtern, die himmelanstrebenden Thürme mit ihrem
Ueberfluss an Stuckornamenten... und nun plötzlich die Erinnerung an den Gang der europäischen
Politik in dem engen Rahmen einer höchst beschränkten einheimischen Weltauffassung. In welchem
Gradé verdirbt doch das Lesen der nervösen englischen Zeitungen diese armen Eingeborenen!
Ihre Hoheiten fahren nach dem sogenannten „Teppakulam Bungalow“ , dem Landhause des
Collectors. Es steht auf einem mässigen Erdhügel an einem ansehnlichen künstlichen Wasserreservoir.
In der Mitte des Beckens blinkt auf einem Inselchen ein eleganter kleiner Göttertempel
hinter Bäumen hervor. Der Gründer beider Bauwerke war der grosse König Tirumala.
Um halb fünf Uhr fahren die erlauchten Reisenden nach: dem Palaste, in welchem einst die
Na'iks (vom Sanskrit-Wort „nayaka“ , Führer) gewaltet haben. Man hatte ihn vor nicht langer
Zeit theilweise restaurirt, um darin die : Bureaus des Collectors, des Kreisriehters und des
Ingenieurs unterzubringen.
Madura und seine nächste Umgebung machen einen entzückenden Eindruck. Bevor die
Engländer ihren Einfluss unmittelbar zur Geltung brachten, zeichnete sich die Stadt durch gesundheitswidrige
Verhältnisse aus, um so mehr, als sich rings das Dschungel mit seinem seuchenhaltigen
Boden ausbreitete. Die Ankunft der Europäer wandte rasch alles zum Bessern. Breite Strassen,
Wasserleitungen, Alleen in die Vorstädte traten an die Stelle der frühem Verwahrlosung, die
sich gar wol mit dem architektonisch herrlichen Fürstenpalast und den überreich geschmückten
Tempeln vertragen hatte.
Der Palast, zu dessen Besichtigung Ihre Hoheiten gekommen sind< war einst der Stolz
des südindischen Herrschers Maha Radscha Manya Radscha Schri Tirumala Sewari Nayani Ayyalu
Garn. Besonders vortrefflich sind die Flügel des :colossalen Durbar-Saales in einem dem. gothi-
schen ähnlichen Stile mit den Figuren darüber schwebender phantastischer Wesen.
Heute geht unsere Reise durch Indien und damit die Besichtigung seiner Sehenswürdigkeiten
zu Ende. Von Indien zu scheiden fällt gewiss schwer, viel mehr als von Aegypten und seinen Wundern.
Dauerte doch unser Aufenthalt in Indien mehrere Wochen, die von einem tiefeingreifenden Interesse
erfüllt waren und uns immer mehr und mehr zur Erkenntniss des mächtigen Ostens befähigten!
Wie kommt es, dass das Vaterland Buddha’s und Akbars auf jeden Ankömmling aus dem
Abendlande von jeher einen unerschütterlich gewaltigen Eindruck, ausübt? Um so mächtiger muss
diese wichtigste Halbinsel Asiens auf die Einbildungskraft, sowie auf die gesammte Gedanken-- und
Gefühlssphäre jedes modernen Russen wirken, der mit vollem Bewusstsein Ausschau hält über den
Gang der Weltereignisse in den östlichen Grenzländern seines Vaterlandes, in jenen organischen
Theilen der irano-turanischen Welt, die jetzt dieselben Entwickelungsphasen durchzuleben scheinen,-
die z. B. im 17. Jahrhundert die unter dem Scepter Moskaus kräftig empoxstrebemden Grenzwacht-
Städte im russischen Süden und jenseits des Ural durchzumachen hatten. Jene Städte verkörperten
die Fortsetzung der glorreichen Tage Iwans IV., d. h. des im Ueberfluss seiner jungen Kräfte
einherschreitenden und sich geistig mit vielen fremdrassigen Stämmen amalgamirenden Zarenreichs.
Die zu Verhandlungen mit Asien beauftragten Bojaren kannten damals den Orient weit besser als
unsere modernen Diplomaten, die leider gar zu oft nur aus abendländischer Quelle ihre Kenntnisse
schöpfen und nach fremdem Maassstabe urtheilen. In jener Zeit verstand und vertheidigte jeder
Gesandte unsere Reichsinteressen an den türkisch-mongolischen Grenzen mit demselben Gefühl,
wie diese Interessen dort bis auf den heutigen Tag jeder beliebige Kosak, jeder schlichte Soldat,
jeder alte Eingesessene oder ein frisch angekommener Ansiedler versteht und vertheidigt.
Wer unter uns Tausenden von Gebildeten kennt und sieht heutzutage die werthvollen
Seiten unseres damaligen Patriotismus, unseres damaligen weiten Blicks?
Die Geschichte der Beziehungen Moskaus zu dem fernen Südosten ist verhältnissmässig
noch wenig erforscht Und welcher Reiz liegt doch in dem Stil der Gesandtschaftsinstructionen
Orientreise. II. - 21