
Je weiter man sich in solche befremdende Geschichten aus einer uns vollkommen unverständlichen
Welt vertieft, in die wir mit unsern abendländischen Gedanken und Gefühlen einzudringen
doch nicht im Stande sind, desto quälender drückt diese Welt uns mit der Colossalität
ihrer Thurmmauern, mit den zahllosen Fratzengestalten, die die complicirten Ornamente bilden, mit
der Eintönigkeit der finstern Säulenhallen, mit der kalten Vollendung der namenlosen Gränitgötter-
bilder. . . Die symbolischen Thiere (Yali) mit kurzen Elefantenrüsseln, welche Halblöwen darstellen
sollen, wechseln ab mit Statuen von Pandu-Helden aus dem wilderhabenen Epos des
AUS EINER HALLE DES TEMPELS VON MADURA.
vorhistorischen Indien mit seinen bunt zusammengewürfelten ethnologischen und psychologischen
Schichten: hier hält der Riese Ardschuna den, berühmten Bogen in seinen Händen, dort sieht man
den unermesslich starken Bhima mit seiner Keule u. s. w. Das sind die Heldenbrüder, die für ihr
Land beim heutigen Dehli stritten, die angeblichen Gründer eines Theils der Felsentempel von
Ellora, die gemeinsamen Gatten der zarten Fürstentochter Draupadi (zu jener Zeit war die Vielmännerei
selbst unter den Ariern Hindostans im Brauch), von den Strahlen der untrüglichen,
wiewol dumpfen Ueberlieferung erhellte Personificationen der einheimischen Traditionen, Sympathien
und Ideale! Was muss das für eine Zeit gewesen sein, die solche Reckengestalten werden
liess! Einer dieser vom Volk verehrten Halbgötter kostete, gleich der Göttin Durga, nach glücklich
bestandenem Kampfe das Blut seiner Feinde.
In den grauen Granit der Nische eines finstern Corridors ist eine eherne Thür eingelassen;
sie ist luftdicht verschlossen und unwillkürlich sucht man hinter ihr die Enthüllung irgendeines
Geheimnisses. Hier und da verbreiten Lampen düsteres Licht in den unbetretbaren Wandelgängen
des Tempellabyrinths, wo nur Fledermäuse lautlos umherschwirren. Wir schreiten langsam durch
die uns umgebende Stille. Hier wachsen aus dem Stein hervor die dunkeln Silhouetten des
Kriegsgottes, des Ganescha oder der Lakschmi, dort sind an der Zimmerdecke halbverwischte
Farben sichtbar. Siehe da eine alte Wandmalerei aus dem Privatleben der ehemaligen Radschas,
Bildsäulen mit den Spuren der Zerstörung von van dalischer Hand, das Steinbild einer Schlange
mit einem Menschenkopf— Die Brahmanen bemerken erläuternd, dass in Madura ausser Schiwa
besonders seine Gemahlin Minakschi, die Tochter Kuwera’s, des Gottes des Reichthums, d. h.
eigentlich die „Fischäugige“ (von „mina“ Fisch und „akschi“ Auge) verehrt wird. Es gibt hier
auch ein' besonderes Kapellchen zur Ehre der heiligsten indischen Weisen (der. Risehis).
- Wir befinden uns noch immer vor einer ganzen Reihe von monotonen Statuen in den
Haupthällen des Tempels. Steinfiguren mit unnatürlichen Körperformen, mit über die Maassen
zugespitzten Gesichtszügen und fein gespitzten Schnurrbärtchen starren uns auf Schritt und Tritt
an.1 Da' beginnen die Priester ihre Schätze vor den erlauchten Besuchern auszubreiten: Halsgeschmeide,
schwerwiegende goldene Brusttücher, Kopfschmuck, Ohrgehänge, Vögelchen und
Schmetterlinge aus Saphiren, Rubinen, Smaragden und P e r len ... Man sagt, das riesige Besitzthum
der Götter Maduras sei im Mittelalter bei den Ueberfällen der Muhammedaner vergraben
worden. Die Feinde zerstörten habsüchtig einen grossen Theil der Tempelräume und schlachteten
die Bewahrer des Geheimnisses ab; trotzdem gelangten sie nicht in den Besitz des Schatzes, und
so blieb er bis heute dort im Dunkel unterirdischer Gänge zur Augenweide der in diese hinabsteigenden
Himmelsbewohner. In die Säulen einer Galerie sind Kügeln eingelassen, die aus demselben
Steine gleichzeitig mit den Säulen herausgearbeitet wurden. Man kann sie drehen, ein
wenig herunterlassen und aufheben, aber man kann sie nicht heraüsnehmen, so wenig als die
vergrabenen Schätze der Schiwaiten von Madura.
Wir nähern uns dem Ausgange und den Gopuras: Wechslerbuden, Gruppen familienweise
sich lagernder Wallfahrer aus der Ferne, Handelsboote mit mannichfaltigen einheimischen Producten,
ausserdem plumpe Fahrzeuge zum feierlichen Transport der Götterbilder an Festtagen. Diese
Wagen, die wir schon auf der Insel Sßhrirangam und in Tandschor bemerkt haben, fesseln die
Aufmerksamkeit nicht allein durch ihre eigenartigen Schnitzereien hoch über den Ungeheuern
Rädern und den vorn befindlichen symbolischen Flügelrössen, sondern auch durch ihre religiöse
Bedeutung, da sie gewissermaassen die Lebenskraft des Weltalls'verkörpern sollen, über welchem
die zufriedenen Himmelsbewohner thronen und gleichsam schweben. Um zur Freude der Gläubigen
die durch langes Sitzen ermüdeten, in tiefe Gemüthsruhe versunkenen Götter ab und zu
durch die Stadt spazieren zu führen, spannen sich Tausende von Menschen vor die seltsamen
Wagen, von denen allein schon die Ornamentirung mit ihren wunderbaren Combinattonen von
verschiedenen Geschöpfen und menschlichen Wesen Zeugniss ablegen soll von der Wechselwirkung
der entgegengesetzten Weltprincipien. Kein Wunder, wenn im Gedränge schwere
Fälle und Verstümmelungen mit tödlichem Ausgang Vorkommen. Die Hindus werfen sich nicht
aus Fanatismus, wie bei uns gewöhnlich angenommen wird, unter den langsam fahrenden „heiligen“
Wagen, sondern manche von denen, die ihn ziehen, verlieren in der Ekstase Selbstbeherrschung
und Kraft und sinken todesmatt unter die Räder, die wahrhaftig nicht zu dem Zwecke bestimmt
waren, als Werkzeuge der Zerstörung zu dienen.
Der Brauch, der Masse die Idole zu zeigen, ist nach Ansicht der Orientalisten ganz buddhistischen
Ursprungs und in Indien noch eine Erinnerung an die Anhänger der Lehre Schakyamuni’s.