
Möglichem und Unmöglichem, von barbarisch Wildem upd daneben wieder Formvollendetem zu
schaffen. An einer Stelle der Tempelwand befindet sich das Bild eines Europäers mit rundem
Matrosenhut und mit den selbstzufriedenen Zügen John Bull’s. Das Bauwerk gehört dem n . Jahrhundert
an, und die Eingeborenen erblicken in diesem steinernen Ausländergesicht eine alte Weissagung,
gerade solche Leute von jenseits des Meeres würden das Land unterjochen. Indess unterliegt
es nicht dem geringsten Zweifel, dass die Bildhauer von Tandschor die Sculpturen der
Façade erst allöiählich ausführten, sodass die Figur des Ausländers natürlich erst entstand, als die
Hindus schon die Bekanntschaft der weissen Colonisatoren aus Madras gemacht hatten. Der
schöne Tempel ist nach Vermuthung der Archäologen viel später errichtet worden als die ändern
Bauwerke, wahrscheinlich nicht vor Ausgang des 1 6. Jahrhunderts.
Die Tempelbajaderen, die im wahren Sinne ihres Dienstes verpflichtet sind, im Tempel
die von dem Getriebe der Menge abgesonderten Statuen der Gottheiten durch Tänze zu erheitern,
sollen von Kindesbeinen an dem Kriegsgotte geweiht sein; man verlobt sie einer Stahlklinge, und
von da an sind sie berufen, den Brahmanen blindlings zu gehorchen und sie zu befähigen,
die Tempelkasse zu füllen.
Am Thore des Peria Kowil liegt in einem offenen kleinen Pavillon der ungeheure, aus
schwarzem Stein gehauene Stier Nandi, eine Verkörperung der Gewitterwolke, auf welcher Schiwa
reitet, und damit zugleich das Urbild der Fruchtbarkeit. Die Figur glänzt von dem Kokosöl,
womit es die Hindus salben.
Die Equipagen Ihrer Hoheiten und des Gefolges fahren an dem Festungsgraben und den
finstern Thoren vorbei nach einem Hügel, auf welchem die Kirche und das Wohnhäüschen des
wohlbekannten verstorbenen Missionars Schwarz steht. Die Kirche ist leer und düster. In sie
eingetreten bleibt man unwillkürlich vor einer Reliefgruppe aus weissem Marmor stehen, die gegenüber
dem gegenwärtig verwaisten Altar angebracht ist. Hinter dem Altar ruhen die Ueberreste
des gottesfurchtigen Mannes, der in der Entwickelung des geistigen Lebens dieses Landes eine
so hervorragende Stelle einnimmt.
Die protestantische Welt trat verhältnissmässig spät in die Reihe der christlichen Con-
fessionen ein, die sich berufen fühlten, den Heiden das Evangelium zu verkündigen. Die dänische
Regierung ging darin zuerst vor. Der humane König Friedrich IV. (1699—1730) sandte nach
Indien, wo Dänemark einige kleine Besitzungen hatte, mehrere hingebungsvolle Glaubensboten,
die fleissig die einheimischen Sprachen und Landesgebräuche zu studiren begannen. Unter diesen
Männern der Wahrheit that sich Schwarz hervor, der in Halle studirt hatte und sich mit Aufbietung
all seiner Kräfte und Energie der Verwirklichung der lichtschaffenden Ideale des Christenthums
widmete. Während rohe Ankömmlinge aus dem Abendlande auf Schritt und Tritt die Eingeborenen
durch ihre Ausschweifungen und Raubgier beleidigten, hob sich der von Demuth durchdrungene,
von Glaubenseifer brennende Missionar in scharfem Contrast von den ändern Europäern .ab, indem
er zwischen zwei feindlichen, grundverschiedenen Völkergruppen als die personificirte Herzensgüte
auftrat Die erhabene Gestalt des Abendländers —■ j,des Lehrers und Seelenhirten“ mit seiner
innigen neutestamentlichen Weltanschauung steht in der Düsterheit ringsum, inmitten von Streitsucht
und Blutvergiessen und der damaligen Brutalität, vereinzelt da. Dafür hatte Schwarz auch
unbestrittenen Erfolg; er konnte etwa siebentausend Eingeborene als überzeugte Bekehrte zählen.
Allmählich erwarb er sich beim eingeborenen Volke eine fast übernatürliche Bedeutung und
stieg in dessen Achtung viel höher als je sonst jemand aus der Menge seiner Rassen- und Glaubens^
genossen im weitesten Sinne. Obwol er seine Zuflucht niemals zum Asketenthum rein indischen
Charakters nahm, wurde er dennoch von den die Heiligkeit verehrenden Eingeborenen bis zum
Himmel erhoben. Wie sehr er geehrt wurde, geht am besten aus den Thatsachen selbst hervor.
Auf einem Feldzuge ging einem englischen Corps das Geld zum Ankauf von Proviant aus,
und es drohte der Truppe Gefahr. Nirgends wollte jemand den Fremdlingen, die schon Noth zu
leiden anfingen, zu Hülfe kommen. Schwarz machte von seinem Einflüsse Gebrauch, und die
Soldaten bekamen alles Nöthige auf sein blosses Versprechen der baldigen Tilgung der Schuld.
Ein andermal lehnte der Sultan Haider Ali directe Verhandlungen mit den britischen Behörden ab :
„Lasst zu diesem Zweck den Deutschen kommen, der wird nicht betrügen!“
Nach verschiedenen kriegerischen Unruhen im Gebiete von Tandschor entstand ein
Kampf um den Thron; der noch jugendliche Scharfodschi, ein Mahratte, der von dem kinderlos
verstorbenen Maharadscha an Sohnesstatt angenommen worden war, wurde zuerst nicht anerkannt.
Die Erziehung des Knaben wurde dem tugendhaften Schwarz anvertraut, und dieser
löste glänzend die Aufgabe, den nach seiner Entwickelung musterhaften, human gesinnten
Fürsten zu erziehen. Von der Bekehrung des noch minderjährigen leichtempfänglichen Zöglings
zum Christenthum war nie die Rede. Der weise Missionar begriff, dass das Glück des Knaben
und seines zukünftigen Fürstenthums ausschliesslich von der Cultur seines . Herzens und Verstandes
abhing. Scharfodschi wuchs in der That zu einem Manne heran, dessen ganzes Wesen das
Gepräge tiefinnerlicher Harmonie trug, trotzdem ihm, einem Brahmanisten, die europäische Bildung
eingeimpft worden war. Wohl vertraut mit den wissenschaftlichen Arbeiten Linnd’s und Buffon’s,
voll Anerkennung für die Schöpfungen Shakespeares, dem Missionar, seinem zweiten Vater, in
tiefer Verehrung ergeben, blieb der Radscha von Tandschor doch ein echter Mahratte; ein Reiter,
Jäger, und Schütze ohnegleichen, Kess er, der Bonaparte bewunderte und in seiner BibKothek
dessen Porträt bewahrte, tief gedemüthigt sich mehr und mehr ins Schlepptau von Madras nehmen,
bis er unwülkürKch in eine ganz abhängige Stellung gerieth. Wäre dieser Herrscher von Tandschor
ein halbes Jahrhundert früher geboren worden, so hätte er von sjch als von einem auch poKtisch
befähigten Krieger reden gemacht So aber versenkte er sich, seiner Besitzungen fast ganz beraubt,
in literarische Thätigkeit, in der er einzig noch Seine Befriedigung suchte.
Mit dem 1798 erfolgten Tode des hochbetagten Schwarz trat für Scharfodschi eine bemerkbare
Lockerung der Bande ein, die ihn mit der Welt der abendländischen Civüisation verknüpften.
In der ausdrucksvollen Marmorgruppe, vor der wir stehen, fanden die Gefühle des Fürsten,
der den Hingang seines Lehrers aufrichtig betrauerte, ihren Ausdruck. Schwarz ist dargestellt, wie
er im Begriff ist zu sterben oder eben gestorben ist; er ruht auf dem Bette, nur umringt von
den Personen seiner nächsten Umgebung, während der Radscha, sein Schüler, der durch seine
königliche Haltung und sein scharfes Profil unwillkürKch die Aufmerksamkeit fesselt, dem heim-
gegangenen Greise die Hand zum Abschied schüttelt und die Thränen nicht zurückzuhalten vermag.
Solche Denkmäler gereichenden Europäern im Orient zu gerechtem’ Ruhme. Die zum Heile
der nichtchristKchen Völker in den Osten entsandten Missionen tragen in sich selbst das Unterpfand
der Zukunft und haben keine vorurtheilsvoKe Antipathie zu fürchten. Die KebevoUen Bestrebungen,
die starre Welt des Heidenthums durch lebendige Berührung mit den neutestament-
Kchen Grundwahrheiten zu erneuern,* müssen sich von Jahr zu Jahr verdoppeln und sich Innerasien
immer mehr zuwenden. Die Heilung der Seelen der dortigen MilKonen ist unauflösKch verknüpft
mit warm empfundenem Mitleid in Bezug auf deren materieUe Nothlage. Nur so lässt sich die
Hoffnung hegen, dass erfreuKche Resultate erreicht werden können.
Das Abendland verarmt bekanntKch nicht an Trägern der christiichen Idee, den Bedrängten
jeder Rasse Hülfe zu bringen. Erst noch vor kurzem erfuhr die Welt von der heldenmüthigen
Thätigkeit eines kathoKschen Missionars, des Belgiers Damiens, der sich der Thätigkeit unter
den vom Aussatz behafteten Bewohnern der Sandwich-Insel Molokai geweiht hatte und durch
Ansteckung ein martervolles langsames Ende gefunden hat.
Orientreise. II. - J7