
Art war man auf beiden Seiten im Recht,1 aber war etwa der schlichte Hindu fähig, die ihm widerfahrene
scheinbare Herzlosigkeit zu begreifen? - .
Hier zu Lande muss ich zu meinem Erstaunen öfter die Klage über den schlechten Stand
der indischen Finanzen hören. . . .. A%
Ist es nicht sonderbar, von der Armuth, oder, was noch schlimmer, von der thatsächlichen
Verarmung Indiens %u sprechen? Gilt doch -uns Europäern diese entlegene Halbinsel vpn Kindesbeinen
an für die märchenhafte Quelle unerschöpflicher Reichthümer, unversieglicher Fruchtbarkeit,
mit einem Worte, als eine Art Golconda mit Diamanten von der Grösse eines Taubeneies;l| In
Wirklichkeit aber ist das, besonders gegenwärtig, nicht der Fall. Die phantastischen Schatze der
Maharadschas und Grossmoguls, der unbeschreibhche Glanz der indischen Fürstenhöfe, alles gehört
grösstentheils der Vergangenheit an. Häufiger als je begegnen wir jetzt in den Aeusserungen
der Eingeborenen und der Anglo-Inder, sowie in der einschlägigen Fachliteratur der traurigen
Wahrheit vpin „verarmenden Indien“ . Woher? Es gibt der Antworten viele, leider nur zu
viele _ und alle enthüllen ein so drastisches Gemälde von der Verwaltung des Landes durch
die Fremden, alle schildern die anormale Lage der Dinge zwischen den Küsten voh Südmalabar
und den Mündungen des iranges m it; solcher Offenherzigkeit, dass man -zuerst gar nicht
d a ran glauben will . . . ‘ . • -
Die jährlichen Einnahmen Indiens belaufen sich auf annähernd 6 Milliarden Mark, ich er- ^
innere mich indessen des Folgenden, noch, als ob es heute geschehen wäre, und kann den Tag:
des Empfangs ides Grossfürsten-Thronfolgers im Gouvemeurpalast Parel in Bombay nicWaus dem
Sinne bringen . . . jemand unter uns Mitreisenden druckte während der Unterhaltung zufällig
seine Ansicht aus über den Reichthum der Gaben, mit denen das Schicksal Indien ausgestaftet
habe. Mackenzie Wallace, der für einen der besten Kenner dies/Landes gilt, lächelte und B B B I
„O nein, es ist in Wirklichkeit ein armes Land (a poor land)!“ Und wie ironisch klangen diese,;,
wahrheitsgetreuen Worte mitten heraus aus dem Luxus und der Prachtentfaltung des officieEen
Empfangs! Ja, die Engländer — man muss ihnen diese Gerechtigkeit widerfahren lassen^- verhehlen
auch vor sich selbst nicht die bittere Wahrheit: „Indien ist ein unglückliches Land!“
Die Organisation der Verwaltung und der Charakter der Vertheidigung des Landes vor den
angeblichen Feinden Englands (jedenfalls aber nicht der eingeborenen BevölkemnßWommt. so
theuer zu stehen, dass dagegen aEe Einnahmen aus dem riesigen Export sich verflüchtigen,
während Hand in Hand damit auch die Hülfsquellen des Landes versiegen..-Der Reichthum des
T-ndes n im m t infolge der engen Verbindung mit seiner mächtigen Vormünderin und Schutz«
patronin keineswegs zu, .sdÄdern es büsst sogar noch jene Lg|enskraft ein, die ihm v o j Zeiten
innegewohnt hat. Man hat ausgerechnet, dass jährEch etwa 700 MiHionen Mark aus Indien fortschwimmen.
Man fiagt wol: wie geht denn das zu? Höchst einfach. Die Anzahl weissef Beamten,
ungerechnet die rothuniformirte Armee, macht sich für ihre in edler Absicht verausgabte intellectueEe
Arbeit aus dem Gelde der Eingeborenen glänzend bezahlt und nährt sich von demselben nicht
aUein am Orte ihrer BeamtensteEung, sondern auch noch, nachdem sie in den Ruhestand versetzt
worden ist, durch Bezug ungemein hoher Pensionen, und so leben die Herren mit ihren
Familien, gerade heraus gesagt, auf Rechnung der hungernden Bevölkerung Indiens. Die Summen,
die zu Nutz und Frommen der Weissen aus dem Staatssäckel entnommen und um den Preis so
drückender Entbehrungen den Eingeborenen abgepresst werden, bleiben nicht hier, werden auch
nicht wieder zur Wohlfahrt des Landes selbst verwendet, sondern sie dienen ausschUesshch zur
Bereicherung des herrschenden Elements. Die klugen Eingeborenen steEen sich mit Fug und Recht
erstaunt die Frage: Was woUen denn die Engländer eigentEch von uns? WoEen sie wirkEch,
dass unser Vaterland dem Ruin und dem Untergang geweiht werde? Und dann fügen sie mit
der den Asiaten èigenen Schmeichelei hinzu: Nein, sie wünschen unser Wohl; sie beuten uns nur
aus Misverständniss aus . . .
Je- länger man in Indien weilt, desto deutlicher werden einem eigenartige Gründe, warum
die modernen Verwaltungsprincipien des Abendlandes auf dem Boden des conservativen Orients
noch immer unanwendbar erscheinen.
Bei aller Prachtentfaltung, mit welcher sich die Repräsentanten der höchsten Regierungsgewalt
zu umgeben suchen, reicht der Glanz des Hofes der gegenwärtigen Beherrscher der
Halbinsel in den Augen der einheimischen Bevölkerung, die nach dem äussern Prunke urtheilt,
noch lange nicht an die Herrlichkeit des Hofes der Grossmoguls hinan. Zu jenen Zeiten pflegte
man jährlich viele Dutzende von Millionen ’ Mark zur Deckung der Ausgaben zu verwenden,
welche der Unterhalt allein der Harems und der Hofhaltungen erforderte. Als Aurangzeb 1665
nach Kaschmir reiste, nahm er auf diesen Spaziergang 35000 Reiter, 10000 Mann Infanterie
und 70 schwere Geschütze mit,' ‘deren jedes für den Transport ein Gespann von gegen
40 Ochsen erforderte. Ausserdem wurde eine Anzahl leichter Geschütze mitgeführt, die auf reichgeschmückten,
mit je zwei Pferden bespannten Lafetten ruhten. Solche kleine Kanonen wurden
immer vorausgeschickt, um im Augenblicke der Ankunft an irgendeinem Halteplatz Salut zu
schiessen. Ein solcher Platz bildete stets eine unabsehbare Menge farbenbunter Wohnräume. Die
Gemächer des Kaisers, die Empfangszelte, die Umzäunungen der Harems und der Badehäuser u. s. w.
bildeten eine Reihe richtiger Strassen unter den noch zahlreichem und verschiedenartigem Lagerstätten
jedes Ministers oder eines beliebigen vornehmen Hofmannes. Pferdeställe, Proviantmagazine,
Arsenale, Küchen breiteten sich zur Nachtzeit zu einem endlosen Conglomérat aus, in der Frühe
aber wurde alles von neuem aufgepackt, um die Weiterreise anzutreten, auf welcher mit dem Anbruch
des Abends wieder ein grandioses Zeltlager wartete.
Wenn man in Erwägung zieht, ’ dass die schlichte Bevölkerung des Landes in ihrer Unwissenheit
vielenorts bis auf den heutigen Tag nicht weiss, wer eigentlich über sie regiert, die
Götter oder die Heroen der Heldenlieder, dann kann man sich denken, welche Bedeutung dem
Pompe der hochofficiellen Reisen durch Indien beizulegen ist Zu Vicekönigen werden steinreiche
Lords ernannt; man gibt ihnen jährlich ein Vermögen zur Besoldung, und selbst mit diesen
Summen reichen sie zur Aufrechterhaltung ihres Prestiges kaum aus, eines Prestiges übrigens, das
sich nicht auf künstlichem Wege gründen lässt bei Völkern, die gewohnt sind, in ihrem Herrscher
eine fast überirdische Erscheinung zu erblicken und nicht einen vorübergehend wirkenden Beamten,
der gar zu oft über seine Gedanken, Handlungen und Verordnungen sehr strenge Rechenschaft
abzulegen hat nicht allein dem Parlamente, sondern, was viel schlimmer, - sogar einer bis zur
Ungerechtigkeit scharfen und selbst schajmlosen radicalen Presse. .Ein angestammter Herrscher
bedarf im Orient thatsächlich weder des äussern Glanzes, noch der ephemeren Achtungsbezeigungen;
im Zauber der Persönlichkeit, in dem Maasse der von ihr nach allen Seiten ausströmenden,
das Volksgemüth in seinen religiösen Tiefen fesselnden Güte beruht das eigentliche
Geheimniss der Macht eines jeden Thrones in Asien. Die Schöpferkraft des Mythus wirkt dort mit
unversiegbarer Gewalt. Wo aber sollen Europäer fin de siècle an solchen Quellen der Herrscherwürde,
die der Vorzeit, der Jugendentwickelung der Menschheit angehören, schöpfen?
Durch einen Einfluss ganz besonderer Art zeichnet sich in Indien schon von altersher
das armenische Element aus, das seinen geistigen und geistlichen Zusammenhang mit Etschmiadsin
im Kaukasus niemals lockerte. Bei jeder Wahl eines Ober-Käthölikos in Russland haben auch
Qrientreise. II. 12