
der den Soldaten in den Weg käme. Interessante Sitten, interessante Zustände, wo solche Erscheinungen
möglich sind!
Dieses Factum wird hier nicht angeführt, um Engländer zu kränken, wol aber zum Beweis
dafür, welche Kluft in Indien zwischen den Regierenden und den Regierten besteht.
Hier wäre eine wahre Veranlassung, Entrüstungsmeetings zu organisiren, während es sonst
in England hergebracht ist, solche, in Form von antirussischen Demonstrationen zu veranstalten.
Im gegebenen Falle beschränkt sich das Interesse an dem geschilderten Rechtszustand nicht .
etwa auf das an sich ziemlich natürliche Factum, dass ein angetrunkener Soldat aus Albion ohne
allen Grund irgendeinen Selim tödtete. Merkwürdig erscheint vielmehr das -unnatürliche Benehmen
einer entwickelten Gesellschaft, die einen Akt brutaler Gewalttätigkeit nicht gerade gut-
heisst, aber mindestens ihre ungebildeten Landsleute zu der Ueberzeugung erzieht, dass zwischen
einem Weissgesicht und einem Schwarzgesicht ein Unterschied sei wie zwischen Himmel und
Erde. Umgekehrt machen sich die Eingeborenen über die ihnen feindlich gesinnten rothen Uniformen
lustig. Die Gaukler wagen es, nach dem Zeugnisse der Engländer selbst, kleine Affen, die mit
ihnen auf abgerichteten Ziegen im Lande herumziehen, die Soldaten der britischen Armee nachahmen
zu lassen. In den vierziger Jahren vertrieb sich der jugendliche Herrscher des mit England
äusserlich befreundeten Nepal die Zeit damit, dass er zum Scheine Schlachten zwischen den Gorkhas
und allerhand gemeinen Parias aufführte, welch letztem er die Tracht englischer Soldaten gab und
deren Gesichter er weiss färben Hess. Es ist klar, wer die Niederlage erlitt und die Schlage, davontrug.
Das Spiel des Fürsten war immerhin der Ausdruck der Volksstimmung.
Um so mehr wäre im Interesse des modernen indischen Kaiserreichs zu wünschen, dass,
die regierenden Kreise ihre Hauptaufmerksamkeit darauf richteten, die moralisch anormalen Beziehungen
zwischen den verschiedenartigen Schichten der Bevölkerung zu verbessern. Vorkommnisse
wie das zu Dumdum sind viel gefährlicher und unheilvoller ,als allerlei mikroskopische Grenz-
conflicte im Norden oder Nordosten von Afghanistan. Der naiven europäischen Presse erscheint
es allerdings zunächst weitaus. ernster und wichtiger, wenn etwa der Telegraph die, Nachricht
bringt, dass wir Russen irgendwo in Centralasien irgendjemand nothgedrungen Widerstand leisteten
und ihm eine Niederlage beibrachten und dass Russland sich nach und nach seines richtigen und
innigen Verhältnisses zu seinem Orient bewusster zu werden anfängt. Für uns aber wird es trotz
all unserer Gutmüthigkeit endlich Zeit, dort des öftem ein ernsteres «Quos ego» auszusprechen
Nach einer competenten Quelle betragen die jährlichen Ausgaben der anglo-indischen
Regierung für den Unterhalt der Armee in Indien weit über 400 Millionen Mark, d. h. die Landesbewohner
zahlen einen drückenden Tribut für die Sicherung der Macht einer ihm fremden Rasse
und der ihm noch fremder erscheinenden Civilisation des Abendlandes. In den letzten dreissig
Jahren sind in Indien nur an Befestigungsarbeiten gegen eine Milliarde Mark aufgewendet worden.
Ist das nicht allzuviel, da doch eigentlich niemand auch nur daran denkt, in Asien„uber England
herzufallen, ja vielmehr dieses selbst beständig zu einer aggressiven Politik hinneigt? .
Viel lehrreicher sind die Thatsachen, die darthun, was die Weisheit der anglo-indischen
Regierung zur Steigerung der Productionskraft des Landes geleistet hat und noch immer leistet.
Wie schon bemerkt, beginnt Australien sich mehr und mehr für Indien und dessen ökonomische
Lage zu interessiren. Fragen der Bewässerung und landwirtschaftliche überhaupt spielen
dabei eine hervorragende Rolle. Nach Zeitungsberichten soll ein bekannter australischer Specialist
im Bewässerungsfache nach Indien gekommen sein. Die russischen Ingenieure sollten sich wahrhaftig
ebenfalls öfter praktisch mit fremden Ländern beschäftigen, wo, wie z. B. in Bengalen, die
Bewässerungskunst stufenweise bis zur Vollendung vervollkommnet wird. In die britischen Besitzungen
kommen aus dem Auslande immerwährend gebildete Fremde, welche die hohe Bedeutung
solcher Bauten einsehen, die zwar kostspielig sind, sich aber sehr bald bezahlen. Wir sind dagegen
noch genöthigt, Engländer einzuladen, die uns auf diesem Gebiete Rathschläge ertheilen können; so
soll, wie verlautet, der bekannte Bewässerungskünstler des Pharaonenlandes, Sir Colin Moncrieff,
nach der kaiserlichen Besitzung am Murghab bei Merw in Transkaspien eingeladen worden sein.
Centralasien wartet auf eine schöpferische Einwirkung unsererseits, damit wir im Bunde
mit dem technischen Wissen dem Boden eine erhöhte Productionskraft abgewinnen, während
das Land zur Stunde auf manchen Riesenflächen eine zuweilen erschreckende Unfruchtbarkeit an
den Tag legt. Turkestan, das einst weit bessere Tage friedlicher Culturentwickelung gesehen hat,
„dürstet“ sozusagen nach seiner Wiedergeburt, nach einer blühendem Aera auf Grund der Bewässerungstechnik.
Wenn es in dieser Richtung jemand gibt, bei dem wir in Bezug auf reiche
Erfahrung und energische Art und Weise der Natur zu Hülfe zu kommen, zielbewusst in die
Schule gehen sollten, dann sind es die indobritischen Verwaltungsbeamten und Wassertechniker.
Bedingt durch örtliche Verhältnisse und historische Nothwendigkeit hat die Bewässerungskunst
nirgends je eine so hohe Blüte erlangt, als in Aegypten und in den von Europa entlegensten
Theilen Asiens. Selbst die Babylonier hatten sie an den Ufern des Nils erlernt Solange
das'Volk, das die Ebenen des Euphrat bebaute, diese Kunst pflegte, blühte es auch, dann aber
wurden die Ufer plötzlich zur Einöde, in der grosse, formlose Ruinen von Städten und Reste einst
berühmter Kanäle mit stummem Vorwurf auf den Wanderer niederschauen.
In China und in Indien knüpft sich das Bewässerungswesen an die- erste Zeit der Sesshaftigkeit,
besitzt also eine Vorgeschichte von 3—4000 Jahren. Der Gesändte der königlichen
Nachfolger Alexanders des Grossen, der Grieche Megasthenes, fand im 4. Jahrhundert v. Chr. in
Bengalen bereits ein vortreffliches Bewässerungssystem vor; ohnedies ergab der Boden Jahr für Jahr
eine zweimalige Ernte. Auf Ceylon trifft man noch heutzutage Wasserreservoirs, die schon lange
vor unserer Zeitrechnung erbaut "worden sind. Dies ist um so weniger erstaunlich, als sogar in
Mexico und Peru die ersten Spanier ein ganzes Netz vortrefflicher Bewässemngsanlagen vorgefunden
haben, die den Eingeborenen seit undenklichen Zeiten bekannt waren. Den Europäern,
welche die Alte und die Neue Welt colonisirt haben, blieb nichts übrig, als in dieser Beziehung
ihre eigene Kunst mit der ererbten ihrer neuen Gebiete zu combiniren. Das Grösste ist darin
von den Engländern geleistet worden, die zu wiederholten malen durch furchtbare Hungersnöthe
in ihren indischen Besitzungen dazu gezwungen wurden, über die Mittel nachzudenken, mit denen
man einen hartnäckigen Kampf gegen die Dürren unternehmen könnte. Trotzdem starben in den
siebziger Jahren, ungeachtet dessen, dass 200 Millionen Mark zur Unterstützung der am schwersten
nothleidenden Eingeborenen angewiesen worden waren, 5 250000 Menschen am Hungertode!
Das Land wird heutzutage, von einemganzen Netze von Eisenbahnen durchkreuzt, sodass
es leichter als je ist, nothleidenden Districten rechtzeitig Vorräthe zu liefern. Aber die Behörden
vermögen einerseits, trotz aller Wohlthätigkeit, nicht immer in ausreichendem Maasse die wirkliche
Ausdehnung der Noth zu erfahren. Ausserdem trägt vieles, was vom europäischen Standpunkte
aus sich als vollkommen gerecht darstellt, in Wahrheit ein anderes Gepräge. Ein Beispiel. In
den Besitzungen manches Radschas erhielten alle, welche die Hand danach ausstreckten, Hülfe,
soweit die Vorräthe nur reichen mochten, sogar dann, wenn der Bittende oder, öfter, die Bittende
noch Talismane, Armbänder oder Amuletringe besass. Die Engländer verabreichten diesen Unglücklichen
Nahrung nur gegen Ablieferung des Metallschmucks, von dem sich zu trennen für den
Eingeborenen oft gerade soviel bedeutet, als eine Sünde wider die Religion begehen. In seiner