
SUDINDIEN.
JV lo r g e n erfolgt die Abreise nach Bombay. In zwei Wochen etwa müssen wir von Indien
Abschied nehmen. Die belehrenden Eindrücke, die erhebenden Gedanken und die in ihrer Fülle
unerschöpflichen Bilder, die wir in diesem herrlichen Lande in uns aufgenommen haben, treten
abwechselnd bald in voller Klarheit vor die Seele, bald zerfliessen. sie wieder in unbestimmte
Nebelbilder, wobei sich Gegenstände, Namen und Personen im Gedächtniss auf wunderbare Weise
durchkreuzen. Ständen mir nicht fast von Schritt zu Schritt eine grosse Zahl von Specialwerken
und Nachschlagebüchern zu Gebote, begleitete den Grossfursten -Thronfolger durch das Land nicht
ein so feiner Kenner des Orients wie Sir Mackenzie Wallace, so würde die Hast, mit der unsere
Reise vor sich geht, in der Form und dem Inhalt, in welchen ich die Sehenswürdigkeiten des
Landes und den Zusammenhang seiner Gegenwart mit der Vergangenheit in das Tagebuch eintrage,
noch deutlichere Spuren zurücklassen. Ich muss bekennen, dass die Liebenswürdigkeit
der Behörden gegenüber den 'Wünschen des Landesfremden, über das Reich Ihrer Majestät der
Königin-Kaiserin Victoria Kenntnisse zu sammeln, über jedes Lob erhaben ist und in der Tfrat
nicht übertroffen werden kann. Alle möglichen Fragen sind nach verschiedenen Gesichtspunkten
aus den werthvollsten Quellen erörtert und aufgehellt.
Die officiellen Riesenwerke über Indien von der Art des „Statistical Survey“ und des
„Imperial Gazetteer“ bilden zusammen eine ganze Bibliothek. Leider besitzen wir Russen nichts
der Art, nicht allein in Bezug auf das asiatische Russland, sondern nicht einmal über Moskau nahe
Gebiete. Hätten wir solche Werke, so könnten Resultate daraus gewonnen werden, die schon
vom Nützlichkeitsstandpunkt aus für unsere orientalischen Grenzgebiete als unschätzbar betrachtet
werden würden. Sibirien, der Kaukasus, Turkestan würden als die blendendsten Edelsteine in
der Zarenkrone glänzen.
Bis zur Stunde bleibt aber den Engländern in Asien das verschlossen, was gerade das Wichtigste
ist: die Seele der Völker, über die sie regieren. So muss es auch'bleiben. Man kann
der Geschicklichkeit Britanniens, über Oceane und fremde Machtgebiete zu herrschen, aus voller
Ueberzeugung reichste Anerkennung widerfahren lassen, und doch wird jeder patriotisch, aber vorurteilslos
denkende Russe seine Augen nicht der Einsicht verschliessen, noch verschliessen dürfen,
dass zwischen Britanniens geordneter und unserer noch länge nicht geordneten Wirtschaft in den
Ländern des colossalsten und bevölkertsten Erdteils ein fundamentaler Gegensatz besteht. Für
die Briten ist die Besitznahme von tropischen Gegenden, die ein Menschenmaterial besitzen, das für
andere um ein Stück Brot arbeitet, recht angenehm, jedoch unsicher. Für den Antipoden Englands
für das Asien des Weissen Zaren, ist das Verwaltungsprincip ein recht patriarchalisches, wenn
es auch im Leben des asiatischen Russland nur- erst. mangelhaft in die Erscheinung tritt. Deshalb
ist dort hinter dem Himalaja alles trocken wie ein Schema und scharf umrissen. Hier aber, von
Erzerum bis Süd-Ussuri, das völlige Fehlen innern Widerstreits zwischen den sogenannten Siegern
und den Besiegten, vielmehr ein sich munter entwickelndes, sprudelndes Volksleben, das sich vor
dem indiscreten Blick politischer Nebenbuhler, nicht zu verbergen braucht,' das von der Zukunft
nichts zu befürchten hat, da es in sich selbst die Zukunft verwirklicht, welches in Wahrheit nicht
erobernd vorgeht, da diese ganze, zu uns gravitirende, ausserrussische Welt mit uns durch Geblüt,
durch Ueberlieferungen und gemeinsame Weltauffassung brüderlich verwandt ist. Wir knüpfen mit
dem, was von jeher unser gewesen ist, die alten Familienbande nur enger.
Der folgende, nach einer interessanten englischen Quelle (Caine) wiedergegebene Fall spricht
deutlicher als alles andere von den Beziehungen, wie sie thatsächlich zwischen der angelsächsischen
Rasse und der mundtodten, schutzlosen Bevölkerung Indiens herrschen. Während sich bei uns in
den Bazaren von Merw und Taschkent ein junger Soldat unter einen Haufen Asiaten mischt, mit
ihnen kameradschaftlich verkehrt und sich durchaus nicht unter ihm tief verächtlichen Niggers fühlt,
blicken .die typischen Vertreter des britischen Waffenruhms, in der Person ganz untergeordneter
Chargen, auf die Eingeborenen immer nur als auf eine Art von Wesen niedriger Art, sodass
sogar eine Gewaltthätigkeit dem Thäter nicht als besondere Schuld angerechnet wird, ja, wol nicht
einmal angerechnet werden darf.
In der Nähe von Kalkutta befindet sich ein kleiner Ort; Namens Dumdum, wo die Baracken
des Leincester-Regiments stehen. Vor kurzem entfernten sich eines Abends vier bewaffnete
Soldaten aus den Kasernen in der Absicht, sich zu betrinken. Sie brachen polternd in
mehrere Eingeborenenwohnungen ein, wo sie geistige Getränke verlangten, die ármen Leute
schlugen, Palmwein erbeuteten und bis Mitternacht dem Tranke fröhnten. Alsdann drangen sie
in das Haus eines gewissen Selim-Scheich, weckten den Wirth aus dem Schlafe, schleppten ihn
aus dem Bette und befahlen ihm, sie zur nächsten Schenke zu führen. Der Eingeborene entschuldigte
sich, keine zu kennen, worauf sie ihn in den benachbarten Teich warfen. Einer der
Soldaten ging so weit, auf den armen Selim Feuer zu geben.
Es entstand ein Alarm. Die Nachbarn eilten dem mit dem Tode Ringfenden zu Hülfe, der
Mörder aber begab sich mit seinen Kameräden ganz gemächlich in die Kaserne zurück, und erst
später gelang es, ihn zu entdecken, als nämlich die Behörden zur Enthüllung des Verbrechens
eine Gratification von 300—400 Rupien versprachen. Zwei Kameraden dessen, der geschossen
hatte, Hessen sich durch die Summe verführen, den Angeber des Schuldigen zu machen, den obendrein
ein Eingeborener, der Zeuge des unerhörten Vorgangs gewesen war, erkannte und überführte.
Zur Ehre des engÜschen Richters, der die Angelegenheit untersuchte, muss gesagt werden, dass
er den Soldaten zum Tode verurtheilte. Allein dies erregte unter den Engländern in Kalkutta
einen solchen Unwillen und unter den Regimentskameraden des Mörders eine derartige Entrüstung,
dass man ihn schliessHch vollständig freisprach und ohne Strafe frei Hess.
Charakteristisch ist an diesem FaU noch: als der Soldat Feuer gab, begründete er sein Vorgehen
den Kameraden gegenüber scherzweise mit der Bemerkung, daran Hege doch weiter gar
nichts: „es gibt solcher Braungesichter noch genug“ . Das Leineester-Regiment aber machte
bekannt, dass, faüs das Urtheil vollzogen werde, eine offene Meuterei unausbleiblich sei und man
bei der wachsenden Erregung zur Tödtung eines jeden Eingeborenen (nigger) schreiten werde,
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