
darauf ankommt, so sind ihnen die Europäer lieber als die Hindus^ Für die Regierung in
Kalkutta ist es daher ein Gebot der Nothwendigkeit, stets einen passenden Ausweg aus dieser
schwierigen Lage zu suchen und ihre Zuflucht zu einer Art captatio benevolentiae zu nehmen, d. h.
es entsteht für sie die Frage: soll sie die Millionen Muhammedaner mehr als die Andersgläubigen
hätscheln oder ausnahmsweise den stets kochenden Hass der brahmanischen Welt gegen die ruchlosen
„Kuhmörder“ ausnutzen? Man mag die Vortheile, die aus der Einhaltung dieser oder jener
Richtung fliessen mögen, so oder so schätzen, jedenfalls ist die Entscheidung nicht leicht In
dem blutigen Aufstand von 1857 verbanden sich an manchen Orten die sich sonst in Religionsangelegenheiten
befeindenden Eingeborenen eidlich zu einer einzigen rachedürstenden Masse,
Nach dem Galadiner Soirée im Government House mit zweitausend Geladenen.
Dem Grossfürsten-Thronfolger stellt j ie h . die ganze endlose Reihe der vornehmsten Eingeborenen
vor. Unter ihnen zeichnet sich durch seinen ehrwürdigen Namen ein gewisser Radscha
Tagor aus.. Aus dieser Familie hat -sich schon mancher durch humanitäre Bestrebungen und
durch sein Mäcenatenthum allgemeine Hochachtung erworben.
Besonders pflegen die Tagors die Musik; diese erfreut sich in Indien seit alter Zeit einer
sehr günstigen Stellung und Hochschätzurig. Unser Wort „gamma“ soll, wie manche Forscher
erklären, aus dem Sanskrit „gräma“ stammen und bedeutet „Tonleiter“ ,-jedoch auch, was in der
That merkwürdig und charakteristisch ist, eine „Dorfgemeinde“ , d. h. ein harmonisches Ganzes.
Jeder indischen Melodie, jedem Liede wohnt dem Volksglauben nach ein eigener, geheimniss-
voller, sozusagen fast magischer Einfluss auf die äussere Welt inne, weil die Welt der Töne mit
der wahren Natur der Dinge in einem innigen Bunde zusammenzuhängen scheint. Das Notensystem
(um hier diese Bemerkung einzufügen) ist den Indern schon seit mindestens einigen Jahrhunderten
vor Christus bekannt und von den Brahmanen wahrscheinlich nach Iran und von da durch Vermittelung
der Araber nach Europa- übertragen worden, wo erst im 1 1. Jahrhundert der italienische
Mönch Aretino (Guido di'Arezzo) die Tonleiter aufstellte.
Einer der Fürsten-Tagor, der sich schon seit langem als feiner Kunstkenner der einheimischen
Musik widmet, sammelt Instrumente, durch die das Land schon seit den Zeiten der Epen
berühmt ist; er gibt auch manche Tonstücke heraus und bemüht sich überhaupt auf jede mögliche
•Art, die Europäer für die indische Musik zu interessiren.
In der That, die indischen „Vinas“ , die thatsächlich mit den russischen Balalaikas übereinstimmen,
die den assyrischen ähnlichen Harfen, die Vorbilder unserer abendländischen Geigen,
Guitarren und Tamburine, die Ornamentirung von altägyptischem Typus auf den Gegenständen
des Reiches der Terpsichore in Indien, die mystische Rolle der Muscheln, die als Schlachthörner
dienten und hauptsächlich im Cultus Anwendung finden, alles das ist im höchsten Grade
beachtenswerth und verdient von seiten Europas mehr Interesse und eingehendes Studium.
Ein Meer von Lichtglanz strahlt von den Spiegeln wieder. Schwere Vergoldung an
Möbeln und Wänden. Gelbgemusterte Seidendivane im Salon. Unter der Menge der Anwesenden
nimmt Wali Achmed, der Gesandte aus Kabul, durch seine stolze Haltung viele Blicke
gefangen. Daneben lenken die einheimischen Offiziere verschiedener Regimenter durch ihre Uniformen
unsere Aufmerksamkeit auf sich. .
Unter den bei der viceköniglichen Soirée Anwesenden soll sich auch der durch seinen
Aufenthalt in Afrika bekannte deutsche Reisende Otto Ehlers befinden. Dieser Tourist begiebt
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sich nach Assam und Indochina, um die. dortigen Colonialverhältnisse vom Standpunkte eines
Pioniers der germanischen Civilisatiön im schwarzen Welttheil zu studieren, ferner um die Frage
zu lösen, ob es möglich sei, mit der Zeit den afrikanischen Elefanten zum Kriegs- und besonders
zum Transportdienst abzurichten, gleich den Riesen der indischen Dschungeln oder vielmehr gleich
den zur Blütezeit der karthagischen Macht und noch unter den Ptolemäern verwendeten afrikanischen
Elefanten. Sich die Kraft und Ausdauer der afrikanischen Elefanten nutzbar machen zu
lernen, ist gewiss recht wünschenswerth, und man kann den Plan der Deutschen, ein so werth-
volles Mittel zur Ueberwiridung der im Negerlande sich ihnen gegenüberstellenden Hindernisse zu
gewinnen, nur höchst praktisch und zeitgemäss finden.; Eröffnet es doch den die Enge ihrer Heimat
drückend empfindenden Landsleuten von Ehlers eine so ausgedehnte Arena der Colonisationsthätigkeit,
dass, je eher ihr Drang nach Süden freier und zweckbewusster. neue Bahnen einschlägt, um so eher
eine ökonomisch wohlthätige Erleichterung für den Westen des europäischen Continents eintreten muss.
Unter den vornehmen Eingeborenen im Saale fesselt aller Blicke der fabelhaft reiche junge
Maharadscha von Kutsch-Bihar, der selten die Nationaltracht anlegt und die europäische Mode vorzieht;
nach englischem Geschmack erzogen, ist er von allen Kasten verstossen.
Heute prangt er in Seide und Kleinodien. Seine nächsten Vorfahren standen noch auf dem
Niveau der Halbwilden und gaben sich alle' Mühe, mit Hülfe der Brahmanen ihre Fürsten- und
sogar ihre Menschenrechte anerkannt zu sehen; er aber löste sich bereits von jedem Zusammenhang
mit der Welt seiner Ahnen los und verheirathete sich mit der Tochter eines Reformators,
der den sogenannten „Brahmoismus“ predigte, eine Religionsgemeinschaft, welche die mittelalterliche
Organisation des Brahmanismus aufheben möchte, indem sie an den Geist des Veda anknüpft,
nicht ohne denselben zum Theil rationalistisch zu interpretiren.
Die Fürstin (Maharani) fuhr mit ihrem Gemahl über Meer, wurde von der Königin Victoria
und der Aristokratie .Grossbritanniens aufs gastfreundlichste empfangen und verkehrte mit
ihnen einfach als „Mrs. Cutch“ . Sie weilt ebenfalls in der überaus zahlreichen Gesellschaft und ist
übrigens nicht allein. Man bemerkt noch mehrere Damen einheimischer Rasse. Indien erschliesst
sich den Emancipationsideen. Viele Zenanas (Harems) haben sich aufgethan. Hinter ihren Mauern
wächst das Bedürfniss nach Bildung. Die männliche Jugend sucht unterrichtete und möglichst
fortschrittlich erzogene Frauen. Die . Missionarinnen werden gern als Lehrerinnen und Rath-
geberinnen bei Kinderkrankheiten, als moralische Stütze bei häuslichen Streitigkeiten u. s, w. gerufen.
Die energische Lady Dufferin machte geschickten Gebrauch von ihrer Lebensstellung, indem
sie einen grossen Fond gründete, der aus den hochherzigen Spenden derjenigen Radschas zusammenfloss,
die eine zweckmässige Organisation der ärztlichen Hülfe für das schwache ‘Geschlecht anstreben,
da dieses unter der Gleichgültigkeit und dem Aberglauben seiner Umgebung seit altersher
bittere Noth leidet Die edle Menschenfreundin berief Aerztinnen (die erste, die kam, war Fräulein
Helena. Bourchier) und Hebammen, eröffnete ein Dutzend Kliniken und Heilanstalten für chronisch
Kranke und hinterliess ihrer Nachfolgerin, der ebenso human gesinnten Marchioness of Lansdowne,
nicht nur ihre Initiative, sondern auch ein beträchtlfches Kapital, das sie hauptsächlich aus den
Spenden der Fürsten von Dschaipur, Alwar und anderer gewonnen hatte.
Die Gerechtigkeit verlangt hier die Angabe, dass die erste wirkliche Wohlthäterin des weiblichen
Geschlechts in Indien Miss Carpenter gewesen ist, die Schwester des berühmten Physiologen.
Schon auf der Schwelle des Greisenalters stehend, kam sie aus England, vertiefte sich in die Lage
der leidenden Mütter und Wöchnerinnen und gründete zu ihrer Unterstützung 1 8 7 0 die „National
Indian Association“ , die jetzt unter dem Prötectorate der Prinzessin von Wales steht
Bisjetzt widerspricht vieles in dem einheimischen streng abgeschlossenen Familienleben
allen Anforderungen der Hygieine. Manche rein religiöse Ceremonien schreiben Verhaltungs-
Orientr^ise., ilv * 8