
Zuerst werden wir zu einem am Ufer des Biwa-Sees. gelegenen Tempel geführt. Nahe bei
dem Kloster Mindera, das einst wie so viele andere Klöster der feiste Stützpunkt einer politischen
Partei war, steht ein Obelisk, der zum Andenken an Persönlichkeiten errichtet worden ist, die
während des Satsuma-Aufstandes im Jahre 1877 getödtet worden sind. Die Schönheit der Natur
Japans ist in einem gewissen Grade monoton. Das dunkle Grün der Nadelwälder und die hellen
schlanken Bambusstauden machen allmählich den Eindrück des Künstlichen, als wären sie ein
Ausschnitt aus einem geschickten Gemälde.
Die erlauchten Reisenden besuchten, das soeben genannte Heiligthum nicht, da sie bereits
die Haupttempel von Kioto gesehen haben. Der Eindruck, den sie machen, ist erwähnenswerth.
Die Dächer japanischer Pagoden sind niedrig und plump, viel weniger gefällig als die in
China und Indochina; sie wirken mehr durch ihre Umgebung als durch ihre Auffassung originell.
Bei.Eintritt in jeden wichtigem Tempel stehen auf beiden Seiten des mächtigen, aber einfachen
Eingangs die Tempelwächter mit dunkeln, schreckenerregenden Gesichtern und in drohenden
Stellungen. . ' - 1 "
Wenn wir durch die äussern Corridore eines alten Tempels wandeln, der ganz aus Holz
ohne einen einzigen Metallnagel oder -Klammer gebaut ist, kreischen und knarren die Dielen unter
unsem Tritten. Im Innern findet man weite Räume mit Säule;n, die aus einem einzigen Stamm
gehauen sind; deinen Altar mit vergoldeten Figuren, Lotus-Spenden, Weihrauchbecken, Bronzefiguren.
Die prächtigen Buddhas, regungslos in ihrer heiligen Stellung, scheinen den Besuchern
ins Herz zu schauen. Die Bildnisse werden nach einem besondern Ritus eingeweiht; es ist „die
Oeffnung der Augen“ , durch die Leben und .Kraft in sie kommt.
Aus irgendeinem Grunde herrscht in der europäischen Presse die Anschauung, dass im
„Lande des Sonnenaufgangs“ der Buddhismus in einem Zustande des Verfalls sei, was aber
vollständig falsch ist. Die Regierung allerdings isfe■•■unter dem Einflüsse moderner Ideen gegen ihn
kühler geworden, aber die untern Klassen bewahren ihren Eifer für die Lehre und den Cultus des
„weisen Fürsten“ . Die Frauen insbesondere verehren ihn. Hunderttausende von Japanerinnen
haben vor nicht langer Zeit ihre Haarflechten zu Seilen für den Transport der bei dem Bau des
Hongvandschii-Tempels gebrauchten Materialien geopfert. Der Tempel ist ein Wunderwerk der
Sculptur und wurde neben einer durch Feuer zerstörten berühmten Kapelle errichtet.
Der Biwa-See ist nach einem Erdbeben an einer Stelle entstanden, wo vorher unzugängliche
Sümpfe sich dehnten, wo die Ureinwohner, die Ainu, einst inmitten der Wälder gehaust
hatten. Allmählich erwachte ein geschäftiges Leben, ringsum, und die Japaner vereinigten hier
viele ihrer Heiligthümer.
Eine breite, endlös scheinende Treppe führt von den Höhen hinab in einen dichten Wald
beim Mmdera-Kloster. Eine mystische Ruhe herrscht in dem Walde, und manche Stufen sind zersprungen
und mit Moos überwachsen..
Unter uns glitzert die Oberfläche des azurfarbenen Sees. Man sieht ihn hier nur zum
Theil. Merkwürdige braune Segel von Fischerbooten ziehen auf ihm dahin. Da und dort verbergen
kleine Hügel am Lande und grünende Inselchen die glatte Fläche vor neugierigen Blicken.
In Biwa besuchten wir einen kleinen Platz, der ein Gegenstand der Bewunderung aller
Touristen ist, denn er trägt ein wahres Wunder des Pflanzenreichs. Es ist ein Baum, dessen
Alter unberechenbar ist. Dieser Baum überrascht sowol durch seine wunderliche Gestalt als durch
seine Grösse; der Umfang desselben beträgt z. B. n Meter, die Höhe etwa 27 Meter; die Länge
der unglaublich weit reichenden Aeste beläuft sich auf 80—90 Meter und noch mehr. Damit sie
nicht herabsinken und schliesslich abfallen, wurden sie durch Holz- und Steinpfeiler gestützt
Den Eingeborenen ist der Baum ein Gegenstand der Verehrung.
IN ERWARTUNG. (IN OTSU.)