
NACH DEM A T TENTA T.
Ryasanoffs nach Nagasaki sandte unsere Regierung ohne Erfolg den Lieutenant Laxman aus
Irkutsk ab, um einige Inselbewohner, die der Sturm an unsere Küste geworfen hatte, in ihr
Heimatland zurückzugeleiten; die Eingeborenen nahmen ihn gut auf, weigerten sich aber unbedingt,
mit der Macht aus Nordwesten in Unterhandlung einzutreten. Damals schien ihnen diese
ein feindseliges barbarisches Chaos zu sein, vor dem man sich in jeder Weise in Acht nehmen müsse.
Allmählich änderten sich die Gefühle. Als nahe Nachbarn wurden wir ihnen für ihr
Studium und ihr Verständniss zugänglicher. Von dem Augenblick an, dass Asiaten die Grundzüge
unserer autokratischen Einrichtungen klarer auffassen, werden sie im Geiste eins mit uns.
Golownin erzählt, dass die Japaner, als er ihnen die eigenhändige Unterschrift des Zaren zeigte,
sich bis zum Tisch verneigten, und nur nachdem sie ungefähr eine halbe Minute in dieser Stellung
ausgeharrt hatten, wagten sie die Documente anzusehen. Mit der Ausbreitung der Bildung im
„Lande des Sonnenaufgangs“ haben die Leute eine gute Anschauung davon bekommen, was
das grenzenlose Russland des Zaren bedeutet. Die Ankunft eines mächtigen Geschwaders und der
Empfang des Grossfürsten hat ihre Anschauung von dem fremden Riesen, der China über den
Kopf gewachsen ist, verstärkt Vor uns ,mag durch die prunkvolle Landung Murawiew’s eine
ähnliche Wirkung auf die Eingeborenen geübt worden sein. Damals kamen 300 Mann aus der
Besatzung von 9 Dampfschiffen, die die Begleitung des Generalgouverneurs von Ostsibirien
bildeten. Doch die gegenwärtige Landung ist ihrem Wesen nach von der damaligen weit verschieden.
Nicht mehr der Embryo russischer Macht erscheint, sondern eine Macht im Blütezustand
ihrer Kraft und ihres Einflusses.
Wie hat sich Russland aus unendlich Kleinem entwickelt? Welches unsichtbare Priücip hat
dieses riesenhafte Gewebe von einem Reiche gewoben? Die Antwort hat schon längst ihre For-
mulirung. Obwol sie sich nicht kurz fassen lässt, muss auf den Seiten dieses Tagebuches Platz
dafür gefunden werden, denn diese Antwort ist der Schlüssel zu manchem Problem.
Seit jener fernen Zeit, als unser grosses Moskau mit seinen goldenen Kuppeln, das kurz
vorher nur eine einfache, kleine Landstadt in einem unbedeutenden untergeordneten Fürstenthum
war, vom schöpferischen Strahle der autokratischen Idee beschattet wurde, die die Herzen der
Herrscher erfüllte, seit jener fernen Zeit hat der türkisch-mongolische Orient, der sich mit Feuer
und Schwert gegen uns wandte, mit Gewalt die Augen der Russen auf sich gezogen. Er hat
in uns schlummernde Kräfte und heroischen Muth geweckt und ruft sie zur Ruhmesthat auf, zum
Ueberschreiten der Grenzen einer traurigen Wirklichkeit, einer glänzenden, ruhmreichen, unaussprechlichen
Zukunft entgegen! Niemals gab und gibt es eine Nation, deren Vergangenheit so
eng verknüpft ist mit ihrer Zukunft, als man am Wachsthum des russischen Reiches sehen kann.
Der Westeuropäer, der Deutsche, Franzose, Engländer, Italiener muss über die See, um Befreiung
von dem ökonomischen Drucke zu finden, der ihn zu Hause zu überwältigen droht. Fern
von seinem Heimatlande muss er sein vergängliches Glück auf Sand bauen, und je tiefer er
dort unter den günstigsten Bedingungen Wurzeln fasst, um so klarer wird es, dass seine alte
Heimat und er, der freiwillig Exilirte, zwei ganz fremden Welten angehören. Jenseits des Meeres,
fern vom Leben seines Vaterlandes, kann er sich Geld und eine Stellung erringen, aber er kann
nicht, oder nur künstlich und nur für kurze Zeit, den Geist seines Volkes, dessen Ideale und
Ueberlieferung sich unberührt bewahren. Russland allein weiss nicht, was es heisst, aus seinem
Gebiet jährlich Tausende seiner Söhne nach fremden Ländern zu senden, die mitten im Ueber-
flusse des Reichthums und der Arbeit, die den ändern zugefallen sind, nicht Obdach noch Nahrung
finden können. Bei uns gibt es Arbeit für alle auf Hunderte von Jahren. Bei uns ist jeder, der
Hände hat zu arbeiten, ein willkommener Gast in unsern östlichen oder vielmehr südöstlichen
Grenzgebieten; hier bricht ein mächtiger Strom des Lebens in einer unerschöpflichen Quelle zu
Tage, und der Reiz eines freiem Lebens wird stets anziehen. Wir haben eigentlich in Asien
keine Grenzen und können auch keine ändern haben, als das endlose blaue Meer, das an den Ufern
brandet, fessellos wie der Geist des russischen Volkes. Wenn man eine solche offenbare Wahrheit
feststellt, bekommt man gewöhnlich zu hören: Was sollen wir damit anfangen? Wir haben schon
genug Land! Wir sind zu^ einer Riesengrösse herangewachsen zum Nachtheil der Regierung, des
Reichs und zum directen Schaden unserer Urbevölkerung.
Aber für Russland gibt es keinen ändern Weg, als zu werden, wozu es bestimmt ist: eine
Grossmacht, die den Westen mit dem Osten verbindet, oder aber ruhmlos unmerklich den Weg nach
abwärts einzuschlagen. Denn Europa würde uns mit seiner Supe-
riorität zur See erdrücken, während die asiatischen Rassen,
durch andere Hände als die unsern aus ihrem Schlummer
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KOSAKENNIEDERLAS SUNG
IM AMURGEBIET.
erweckt, bald gefährlicher für Russland werden würden als die Nationen des Westens. Wir dürfen
natürlich nicht einmal in Gedanken unser Verderben oder unsere Demüthigung zulassen. Das
unvermeidliche Wachsthum unsers historischen Erbes, unser Triumph über feindliche Pnncipien, die
kommende Oberherrschaft Russlands im grössten, bevölkertsten Erdtheil, steht vor unsern geistigen
Augen klar da. In jenen Tagen, als die Verbindungen mit den fernen Grenzgebieten viel schwieriger
waren als heutzutage, entstanden nichtsdestoweniger grosse Reiche. Sie wuchsen mächtig heran
und dehnten ihre Grenzen über das halb, barbarische Europa und den Orient aus, indem sie in
der Form hin- und herschwankten, aber in ihrem Wesen unveränderlich blieben. In der Gegenwart,
wo Eisenbahn, Telegraph und Telephon, um die ändern stündlich neu auftauchenden Erfindungen
und Verbesserungen von Bedeutung nicht zu erwähnen, die Beziehungen zwischen
allen Ländern und Völkern im grössten Maasse vereinfacht haben, in unserer Zeit ist kaum ein
Grund vorhanden, den Raum zu fürchten oder die Entfremdung der einzelnen Theile emes Ganzen.
Praktisch gesprochen, existirt die Entfernung nicht mehr. Was unsern Vorvätern nur nahe
erschien, liegt heute dicht vor uns. Was einst der Gegenstand von Reiseberichten war, die
Träume von einem fabelhaften Lande an den fernsten Grenzen der Welt, heute ist es auf einer
Reise von wenigen Wochen erreichbar. Das 20. Jahrhundert verspricht uns in dieser Beziehung
sogar noch grössere Ueberraschungen. Wir dürfen unsere Gedanken und unsere Phantasie nicht
blind machen lassen durch Vorurtheile und eingebildete Gefahren gegen die unzweifelhaft ein-
ttetenden Ereignisse, die alles ändern werden.