
Der Marquis of Lansdowne ist von berückender Liebenswürdigkeit. Sein Name hat
unter den Freunden humanistischer Bildung und philanthropischer Bestrebungen einen guten
Klang! Es gibt zur Stunde gewiss wenige Staatsmänner, auf deren Schultern eine drückendere
Last der Verantwortlichkeit in intellectueller und moralischer Beziehung ruht, als am Ende des
19. Jahrhunderts auf den anglo-indischen Vicekönigen liegt. Das Erbe Akbar’s und Aurangzeb’s ist
ein für die Westeuropäer keineswegs beneidenswerthes. Das Land mag für seine gegenwärtigen
Beherrscher eine Quelle des Reichthums und der Macht sein, aber dieser materielle Wohlstand
wird ’ durch beständige innere Leiden und Befürchtungen zu theuerm Preise erkauft, mit dem
betrübenden Bewusstsein der. Schwierigkeit, riesige, mit unersättlicher Lust erworbene Ländergebiete
zu bewahren, wenn noch ausser künftigen Gefahren der internationalen Politik die
Nothwendigkeit sich einstellt, mit nie ruhender Aufmerksamkeit nach den Anzeichen innerer
Unzuverlässigkeit im Lande selbst auszuspähen.
Der Statthalter der Königin-Kaiserin herrscht über ein Gebiet von 5000000 Quadratkilometern,
das auf dem Landwege eine Länge von circa 8000, auf dem Seewege von
7000 Kilometern zum Umfang hat. ' Die ausserordentlich verwickelten administrativen und politischen
Fragen, die sich aus dem dringenden Bedürfniss ergeben, für Heilung der zahlreichen Krebsschäden
des annectirten Indiens Sorge zu tragen, und die bittere Verantwortlichkeit vor der öffentlichen
Meinung Englands und insbesondere vo r der rücksichtslosen Presse, alles das ist Grund
genug, um den britischen Aristokraten, die etwa geneigt wären, den Posten eines Vicekönigs von
Indien zu übernehmen, zu Gemüthe zu führen, dass es sich dabei um keine Sinecure. handelt
Keine Ehrenbezeigungen, keine Dankbarkeit der Nachwelt können für die schlaflosen Nächte, die
Mühsale und Beschwerden entschädigen, die auf dieser künstlichen Höhe, auf diesem künstlichen
Throne eines jeden „Viceroy of India“ harren. Ist es z. B. etwa nicht bänglich genug, fortwährend
aus dem indischen Staatsschatze dieses in innerster Seele heimtückische Afghanistan mit Sübsidiar-
summen bei guter Laune erhalten zu müssen, ein Land, wo so viel Boden mit dem Blute englischer
Soldaten gefärbt ist, wo noch jeder dorthin unternommene Feldzug bezeichnet war und immer
wieder bezeichnet sein wird durch unvorhergesehene politische Ueberraschungen, unrühmliche Siege,
zwecklose Annexionen und unvermeidlich damit verknüpfte Rückschritte? Erweisen sich andererseits
in den Gebirgschanaten, die vom ethnographischen Gesichtspunkt aus zum Theil eine terra
incognita darstellen, nicht Schritt für Schritt alle diplomatischen Combinationen für riskirt, alle Entscheidungen
für zweischneidig, wenn man das Bewusstsein der moralischen Ohnmacht hat, dort
etwas mit Gewalt erwerben und fest behaupten zu können? Die verführerisch nahen, lockenden
Besitzungen der einheimischen Zwergfürsten (von Kafiristan, Hunsa und Nagär) fallen einerseits
ganz von selbst in die Hände des anglo-indischeri Reichs (zur Freude mancher gelehrter Russo-
phoben), andererseits bilden sie einen neuen gordischen Knoten im nördlichen Grenzgebiet
Das Schicksal, das 1890 dem Maharadscha von Kaschmir widerfuhr (Golab-Singh erhielt
1846 laut Vertrag von Amritsar und. unter den bestimmtesten Versicherungen ‘ Englands das
„glückselige“ Gebiet Kaschmir als unveräusserliches Eigenthum; der Resident Nisbet setzte aber
den unmittelbaren Rechtsnachfolger als verrätherischer Anschläge verdächtig ab), und die mis-
billigenden Aeusserungen,' die dieses Ereigniss in den Reihen der vorgeschrittenen Hindus hervorrief,
gehören wahrlich auch nicht in die Zahl der Verhältnisse, welche die Ungemüthlichkeit der
gegenwärtigen Lage aufheitern. Die wachsende Finanznoth, die von einer Unzahl gewaltiger
Nebenausgaben, insbesondere auf dem Gebiete militärischer Unternehmungen herrühren, trägt
ihrerseits nicht zum Gedeihen des Landes bei, sondern macht sich im höchsten Grade peinlich
fühlbar. Schon dem früheren Statthalter der Königin', Lord Dufferin, fiel die Aufgabe’ zu, die
undankbare Rolle eines Eroberers des freiheitsliebenden Birma und unseres beredten Feindes
zu spielen, d. h. seine Landsleute gegen ein Reich, welches die vernünftigsten Elemente Asiens
vertritt, aufzustacheln. Desjenigen Vicekönigs, der den viel vorsichtigem und feinfühligem Marquis
of Lansdowne ersetzen wird, harrt hoffentlich das Los, in einer, neuern, friedlichem Richtung
schaffen zu können, was weitsichtige Engländer wol auch bald immer mehr als zeitgemäss
anerkennen werden. Für die Interessen dieses unabsehbar grossen Ländergebietes und seiner
Beherrscher ist es nur schade, dass die Vicekönige auf allzukurze Zeiträume ernannt werden, als
dass sie einer so schweren Pflicht genügen könnten und dass, nachdem sie kaum Zeit gehabt haben,
die Halbinsel mit den angrenzenden Ländern zu besuchen, sie zurückberufen werden, was in dem
Augenblick zu geschehen pflegt, in welchem ein Staatsmann reif zu werden beginnt, etwas vielseitig
Durchdachtes, Ganzes, Selbständiges zu schaffen.
Die Lage, 'der sogenannten „Lieutenant Governors“ (wie z. B. desjenigen von Bengalen)
ist bei weitem angenehmer und fruchtbarer. Sie bleiben gewöhnlich auf längere Zeit im Lande,
haben zwar ein riesiges, aber doch immerhin bestimmtes Gebiet staatsmännischer Wirksamkeit,
studiren ihre interessantesten Bezirke in den kleinsten Einzelheiten, urtheileii über die eingeborenen
Völker nicht nur obenhin, etwa nach aus England mitgebrachten Vorstellungen, sondern aus
Autopsie, mit herzlicher Güte und verhältnissmässig gründlicher Sachkenntniss. Sir Charles Elliot,
der Verwalter von Bengalen, zeigt sich in sein Amt vortrefflich eingearbeitet. Wenn es auch gewagt
sein mag, sich auf Grund flüchtiger Eindrücke über ihn ein Urtheil zu erlauben, so kann man
sich doch in manchen klar vorliegenden Fällen kaum täuschen. Mit einer Fülle bewegter Worte
schilderte er mir die sympathische Seite des Charakters der Eingeborenen, sprach über sie als Mensch,
nicht nur als trockener Verwaltungsbeamter, und verweilte namentlich bei einer rührenden Einzelheit,
die so recht das innige Verhältniss einer anglo-indischen Familie zu d'en einheimischen
Stammeselementen kennzeichnet Es handelt sich hier um die „ Ayjis “ (aya bezeichnet die
Bonne, die Amme, die gewöhnlich aus der einheimischen Bevölkerung ausgewählt wird). Sie
bewähren sich nach dem Urtheil dieses unparteiischen englischen Beobachters als Lichtpunkt
selbst in den allertraurigsten, Familienverhältnissen der europäischen Bevölkerung des Landes.
Von der Minute an, wo die Aya ins Haus eingetreten ist, wird dieses ihre Heimat und ihr
theurer als alles andere auf Erden. Mit Selbstverleugnung weiht sie ihr ganzes Herz dem
fremden „Weissgesichtchen “ , nimmt herzlichen Antheil an allen Freuden und besonders an allen
Leiden ihrer Herrschaft und sorgt ausschliesslich für die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen
derselben. So wird eine Miethamme einheimischer Rasse schliesslich in allen Lebenslagen
zum guten Genius, zum Schutzengel der hochmütigen Vertreter und Vertreterinnen der
herrschenden Klasse,, die von den Landsleuten einer solchen Aya entweder gefürchtet oder
gehasst werden. Sie hingegen ist diesen Europäern aus vollem Herzensgrund ergeben. Die
Kleinen derselben lernen von ihr die Volkssprache und wunderbare indische Liedchen und Märchen,
dienen wol auch den erwachsenen- Familiengliedern als ausgezeichnete Uebersetzer und erfüllen
sich unbemerkt mit humanem Gefühlen und Ansichten. Die Aya vergisst ihre dringendsten
Bedürfnisse, gibt ihren letzten Pfennig, aus, um ihren lieben Pflegekindern irgendein Spielzeug
zu kaufen, und ist bereit, ihretwegen selbst die theure Heimat zu verlassen. Häufig genug nimmt
sie die Stelle der frühdahingeraflten Mutter ein. Die Völker Indiens, aus deren untersten Schichten
fort und fort solche Frauen hervorgehen, sind vom Glück gesegnet und stehen unter dem Zeichen
eines günstigen Geschicks: in die sem Lande erfreut sich die Menschheit noch der ganzen Fülle
ihrer geistigen Gesundheit, aus der ja doch der Urquell und Jungbrunnen eines Lebens höherer
Art fliesst.
Orientreise. II. 7