
Soldaten, die. das indobritische Reich gründeten, ebenso wie die Vertreter der Ostindischen Handels-
compägnie das Vertrauen vieler Orientalen in weit höherem Grade, als es die Staatsmänner des
heutigen Tages besitzen. Jene zog der Orient .mit allen Fesseln inniger Zuneigung an sich und
brachte sie zu der Bevölkerung des Landes in ein entschieden vertrauliches Verhältniss, diese lässt
er eher kalt, weil sich inzwischen eine Menge Verhältnisse gründlich geändert haben. Die Möglichkeit,
öfters kürzere Urlaubsreisen in die Heimat machen zu können, das Herrschen von Ladies
in der Gesellschaft und am. häuslichen Herd, der Zug des Herzens nach der Heimat, wozu die
Schnelligkeit, womit jetzt die mannichfaltigsten Nachrichten und Sensationsgerüchte aus England
nach Indien gelangen, viel beiträgt, eine ganze Reihe solcher wichtiger Umstände hat zu
einer Entfremdung der Cölonisatoren von den einheimischen Elementen geführt. Sie wurzelt
hauptsächlich in der Geringschätzung, womit die Europäer auf die bevormundeten Asiaten herabblicken.
Zur Stunde trennt eine unermessliche Kluft diese von den stolzen Herren des Landes,
die natürlich keine besondere Sympathie hegen für den „krausen Verstand, den erbärmlichen Aberglauben
und die abstossenden gesellschaftlichen Einrichtungen der «dirty natives», auf die man sich
noch obendrein nicht einmal verlassen kann“. Wie war es doch vor wenigen Jahrzehnten noch
ganz anders! Die eingeborenen Soldaten waren in ihrer Zuverlässigkeit über jeden Zweifel erhaben
und schlugen sich mit grösserer Bravour (eroberten doch eigentlich sie für England ein ausgedehntes
Gebiet' nach dem ändern) als die über die See hierherbeorderten weissen Truppen. In
den Feldzügen halfen sie diesen Waffengefährten, wenn jene vom Klima entkräftet waren, stets
mit wahrer Selbstverleugnung, theilten mit ihnen in den Tagen der Noth brüderlich ihre Vorräthe,
warteten ohne Murren auf die etwa verspätete Zahlung ihres Soldes u. s. w. Der fremde Kommandant
erschien den Sipahis als ein wahrer Halbgott, sie hingen an ihm mit rührender Liebe.
Auf dem Grabe eines solchen Offiziers zündeten die Untergebenen Lämpchen an, ja, sie, erwiesen
sogar dem Portrait desselben militärische Ehre.
Nach London ist Kalkutta die volkreichste Stadt des britischen Weltreichs, denn es zählt
fast eine Million Einwohner. Gewiss an drei- bis vierhunderttausend Menschen haben sich heute
auf dem Wege vom Bahnhof bis zur viceköniglichen Residenz angesammélt Viele Zuschauer
sollen aus der Umgegend und von fernher erschienen sein. Die einheimischen Fuhrwerke
drängen sich in allen Strassen, die in den Festweg münden.
Der Zug bewegt sich feierlich die Old Court House Street entlang. Die englischen Handelsfirmen
haben mit Willkommensdecorationen nicht gegeizt; längs der ganzen Linie des Zuges
sieht man Flaggen aller möglichen Staaten; hier sind Tiger-, Panther- und Leopardenfelle ausgehängt,
dort sind die^Säulen mancher Vérandas mit blauem, rothem und weissem Tuch geschmückt
Von der Terrasse des Great Eastern Hotel bewillkommt- uns ein aus Oesterreichern
bestehendes Streichorchester mit den Klängen des „Bosche Zarya chrani ! “ Der Grossfürst-
Thronfolger kann die Ehrfurchtsbezeigungen und Willkommensrufe kaum genug erwidern. Doch
schön erhebt sich vor uns hinter einer Gittermauer das majestätische Government House. Die
Kapelle der auf dem Hofe aufgestellten Ehrenwache spielt nochmals die russische Nationalhymne.
Der „Winterpalast“ des jetzigen indischen Reichs ist vor neunzig Jahren mit enormen
Kosten im Empirestile gebaut worden. Als Vorbild diente der Palast eines Lords Scarcedale in
der Grafschaft Derby. Auf zwei kolossalen Thoren zu beiden Seiten des Palais stehen steinerne
Löwen. Vier langgestreckte Flügel gehen vom Centralgebäude aus: die Privatgemächer des Vice-
königs,-die-Kanzleien und die Zimmer für die beständig wechselnden Gäste des viceköniglichen
Hofes. - Von der das Gebäude krönenden- Metallkuppel- weht die Flagge dés officiéllen Landesherrn.
Früher soll dort oben eine Statue der Britannia mit Helm und Lanze gestanden haben,
aber das Bild musste der Orkane wegen entfernt werden. Alte Kanonen, die als traurige Trophäen
aus den afghanischen Feldzügen hierhergeschleppt worden, schmücken den Rasen vor der prachtvollen
Riesentreppe, auf welcher sich die Behörden, die Consuln, überhaupt alles, was in der
Hauptstadt Indiens zur repräsentativen Gesellschaft gehört, zum Empfang versammelt haben. Auf
den Stufen paradiren in langen Reihen die malerischen Gestalten eingeborener Leibgardisten, alles
ausgesuchte Prachtgestalten mit schneeweissen Turbanen, in goldgestickten, röthlichen Gewändern.
Neben den Generälen, Beamten und der Geistlichkeit der verschiedenen christlichen Confessionen
bemerkt man auch einige bengalische Rädschas (aus Bittija und Darbunga, ebenso den Radscha
von Kutsch-Bihar aus Assam) und andere vornehme Eingeborene.
Punkt 7 Uhr 45 Minuten findet das Galadiner beim Marquis of Lansdowne mit 90 Gedecken
statt. Unter der Zahl der nur Herren umfassenden Gäste bemerkt man die anglikanischen
Bischöfe; Sir Frederick Roberts, den Chefcommandanten der indischen Armee (hauptsächlich
bekannt durch seine militärische Laufbahn in Afghanistan), die einflussreichsten Rathgeber der
Regierung aus den Reihen der Muhammedaner: Amir Ali, Alichan, Nawab Aschanullachan,
Schachzade Furok Schah (die Brahmanisten, z. B. der hochgebildete Radscha Narayan Krischna,
der ebenfalls im Hohen Rath sitzt, sind abwesend wegen der Kastenvorschriften, die dem Hindu
verbieten, mit Andersgläubigen zusammen zu essen, weil dieses verunreinigt); c|||die Generalkonsuln
(der deutsche, Baron von Heyking, ein Mann von grösstem Einfluss yund Wissen, der
österreichische, Stockinger aus Bombay, der griechische, Petrokokino u. ß. m.).
Das junge Hellas ist in dem commerciell so wichtigen indischen Orient offenbar voll
Unternehmungslust viel weiter vorgedrungen als wir. Ein griechisch-orthodoxer Tempel zu Ehren
der Verklärung Christi existirt hier schon seit 1780, in welchem Jahre der berühmte Generalgouverneur
Warren Hastings; dessen Gemahlin-aus Archangel in Nordrussland stammte, zur
Erbauung dieser Kirche mit der Zeichnung von 200 Pfund voranging.
Man begibt sich zur Tafel aus dem Thronsaal, wo sich der Statthalter der Königin
Victoria an den „Durbar“ -Tagen vor den fremdländischen Fürsten éntweder auf einem besondern,
silbernen Thronsessel oder auf einem vergoldeten Elefantensitz (Howda) des den Engländern
einst gefährlichen südindischen Sultans Tippu niederlässt Rings um den schmucken Thronsessel
prangt alles im Lichte der Kerzen von einem weissen, aus Madras importirten marmorähnlichen
Stein. Die Portraits an den Wänden ; die vielen schonen Säulen, die Uniformen leuchten in
einem Meere von Glanz. Der Erzbischof für Indien und Ceylon, Johnson (The Right Reverend
Lord Bishòp and Metropolitan) spricht das Tischgebet. Neben dem Grossfürsfen-Thronfolger
nehmen der Vicekönig und der Generalgouverneur von Bengalen Platz. Am Schlüsse des Diners
werden auf Ihre Majestät die „Queen-Empress“ , auf Seine Majestät den Zaren, sowié auf die
erlauchten Reisenden Toaste ausgebracht.
Man wird sich' schwerlich ein Banket vorstellen können, das origineller und interessaritér
wäre,' als das, woran wir heute theilnehmen. Unter Entfaltung aller orientalischen Pracht feiert
heute das officielle Indien den jungen hohen Gast aus Russland, der hier zu Lande täglich
Schritt für Schritt aus den mannichfaltigsten 'Thatsachen die Kunst der Europäer kennen lernt, sich
in Asien auszubreiten, sowie deren grosse Vergangenheit und ihre noch sehr nebelhafte Zukunft;
die Schicksale dieses Weltthéils sind es, die wir Russen hauptsächlich ins Auge zu fassen haben,
um in unsere wahre Mission im Orient klare Einsicht zu gewinnen.