
Diese kleine Anzahl von Congresstheilnehmern verschwindet fast in nichts, wenn man
bedenkt, wessen Repräsentantin zu sein sie sich eigentlich vermisst. Jede der Millionen der
Bevölkerung Indiens spricht oder trachtet vielmehr nur etwas zu stammeln, vertreten in der
schwachen Person eines Delegirten, dem noch dazu alle streng rechtlichen Vollmachten gänzlich
fehlen. Indessen versichert man, dass schon sechs Millionen Menschen in Indien zu der Frage
der Wahl von Kämpfern für ihre eigenen Rechte mit Bewusstsein praktisch Stellung nehmen. Wenn
man erwägt, wieviele junge Leute Jahr für Jahr an Mittelschulen und Universitäten ihr Examen
bestehen (die Engländer geben sich grosse Mühe, die Bildung in ihren Colonien nicht allein zu
heben, sondern sie auch in den weitesten Kreisen zu verbreiten), dann begreift man vollkommen,
dass zur Hintanhaltung der von unten herauf wachsenden Freiheitsbestrebungen keine Massregeln
mehr ausreichen werden und die Regierung früher oder später sich vor die Lebensfrage gestellt sehen
wird, was dann anzufangen ist mit den hiesigen religiösen Gemeinden und den vormals zerstückelten
Volkseinheiten, die allmählich durch fremden Bildungseinfluss zum Bewusstsein erwachen, mit
Elementen, die noch vor. Jahren fast lethargisch und mundtodt waren.
Die Geschichtsentwickelung schafft im Orient, wie es scheint, neue, verwickelte Aufgaben
für die westeuropäischen colonisirenden Staaten, die geistig nicht auf dem Boden Asiens wurzeln,
auf dem Russland bis zu dieser Stunde, ohne es selbst recht zu wissen, unerschütterlich fest steht.
Europäische Colonien sind eben nur zufällige, krankhafte Auswüchse am Riesenleibe des ältesten
und grössten Continents!. . .
Je mehr unsere Orientreise sich entfaltet und je grössere Dimensionen alles um uns her
annimmt, desto schwieriger gestaltet sich die Lage eines Tagebuehfuhrers, der über diese in der
neuem Geschichte einzig dastehende „Beobachtungsfahrt durch ganz Asien“ Bericht erstatten soll
Vor allem fällt es schwer, den Ausbruch seiner eigenen patriotischen Gefühle und Gesinnungen im
Zaume zu halten, sodann aber müssen die vorüberhuschenden Eindrücke eines flüchtigen Touristen
im Rahmen einer geordneten und entsprechend stilisirten Beschreibung übersichtlich gruppirt erscheinen,
— schliesslich soll ja doch allen geschichtlich wichtigen Momenten der zukunftsreichen
grossfurstlichen Reise, die sich vielleicht nie wiederholen werden,. die gebührende Ehre
erwiesen werden. Schon' die Thatsache allein, dass der Erstgeborene des Weissen Zaren die
Hauptculturländer des Orients besucht, ist, vom national-russischen Gesichtspunkt aus, voll
tiefen Sinnes für unser Asien. Die Bande, die Russland mit Iran und Turan und mithin mit
den diesen in manchen Zügen eng verwandten Reichen Indien und China verknüpfen, sind
sozusagen so unwandelbar dauernd, dass wir selbst, als Volk wie als Staat, bisher ihre Bedeutung
nicht genügend erkennen und unserer- aus diesem Verhältniss sich ergebenden Pflichten in
Bezug auf Fragen der innem und äussern Politik gegenüber den halb unbekannten östlichen,
südlichen und südöstlichen Grenzgebieten unseres Reiches nicht voll bewusst sind. Da ich
schon seit mehreren Jahren das geistige Leben dieser Gebiete und unserer asiatischen Nachbarländer
zum Gegenstand meiner Studien machte (zum Theil an Ort und Stelle selbst), so bietet
sich für mich auf der Reise unwillkürlich alltäglich reiches, vielseitiges Material, um mir selbst
eine immer klarere Idee darüber zu verschaffen, was eigentlich der Begriff „Asiatisches Russland“
enthält Angesichts der äussersten Dürftigkeit der Quellen, die bei uns in dieser Hinsicht noch
herrscht, trotzdem die culturhistorische Nothwendigkeit uns eigentlich in steigendem Maasse
dazu zwingen müsste,' unser Selbstbewusstsein auf diesem Gebiete zu stärken, mache ich mir
die Gelegenheit zu Nutze, hier und da subjective Bemerkungen, Folgerungen und Ausblicke
einfliessen zu lassen und zwar ausschliesslich solche, die einzig und allein mir gehören und für
deren Inhalt nur ich verantwortlich bin. Manche mögen zweifellos, voreilig sein oder Irrthümer
enthalten, aber es ist meiner Ansicht nach für uns Russen längst an der Zeit, sich bestimmte
Vorstellungen darüber zu bilden und manche Gedanken offen auszusprechen, wie wir im Orient
das Erbe Dschingischan’s und Tamerlans beherrschen und inwiefern wir diesen beiden für vieles
historischen Dank schuldig sind. Slavisch nach Gemüth und Sprache, aber mit vielen Völkerschaften
blutsverwandt, ein buntes Gemisch verschiedener Völkergruppen, erwacht Russland seit
etwa 200 Jahren unter dem Anstoss der abendländischen, allgemein menschlichen Aufklärung
thatsächlich und wird bald zu lebhafterm Bewusstsein erwachen als eine neüe Welt des Ostens,
mit dem es in Wirklichkeit, und zwar nicht allein mit den uns zunächst wohnenden Asiaten,
sondern auch mit den Hindus und Chinesen, durch viel mehr allgemeine Interessen und Sympathien
verbunden ist, als westeuropäische Colonisatoren eines ganz ändern, während der letzten
vier Jahrhunderte entstandenen Typus es sein können.
Wie sonderbar sich diese Auffassung-auch ausnehmen mag, zeigt doch die Folge der
geschichtlichen Ereignisse, dass, in dem Maasse wie das Abendland mit Asien in engere Berührung
trat, auch, der Abgrund, zwischen beiden sich erweitert hat. Die ersten zufälligen Ankömmlinge
aus dem mittelalterlichen Westen fühlten sich auf asiatischem Boden noch fast wie zu Hause, so
verwandt empfanden sie die Entwickelungsstufe und die Lebensbedürfnisse, die sie dort antrafen.
Im Mittelalter waren sich verschiedene Missionare, Kaufleute, wenig gebildete Diplomaten u._s. w.
nicht bewusst, wie fremd Europa dem-wirklichen Orient gegenüber ,steht Erst das 18. und das
19. Jahrhundert öffneten in dieser Beziehung allen ein wenig die Augen. Russland allein hat
nicht das Gefühl von dem sich immer noch vergrössernden Unterschied zwischen vermeintlich
jugendkräftigen Völkern und Ländern von vermeintlich ausgelebter Cultur und kann nach seiner
ganzen Anlage dieses Gefühl auch nicht haben. Das alte, nebelhaft skizzirte Skythien, die
Heimat unüberwindlicher Eroberer und Weltherrscher, der Tummelplatz aller möglichen Völkerschiebungen
und wechselseitigen Stammesmischungen, bleibt unwandelbar die Verkörperung des
Gleichgewichts zwischen den einander feindlich gesinnten und entgegenwirkenden' Welten des
Ostens und des Westens.
Die Geschichte unserer. Beziehungen zu Asien und den Fremdvölkern, die einst mehr als
zwei Drittel des europäischen Russlands einnahmen, ist noch ungeschrieben und uns sogar in
klarer wahrheitsgemässer Beleuchtung weit weniger bekannt als z. B. die Vergangenheit mancher
fremder Staaten. Wenn einst unsere Unwissenheit über diese Hauptabschnitte unserer innern
Geschichte verschwinden wird, so. werden wir alsdann unweigerlich zu der mit vollem Bewusstsein
festzuhaltenden Ueberzeugung gelangen, dass Er, auf dessen Haupt in magischem Strahlenglanze
sich vereinigen die Kronen der Grossfürsten von Yugra, Perm, der Wolga-Bulgaren, der Herrscher
von Kasan, Astrachan und Sibirien, dessen Ahnen vor noch nicht länger Zeit in der ,-,Stadt
der weissen Thürme“ , in Moskau, sich mit Stolz nannten „alles Nordlandes Gebieter und vieler
ändern grossen Reiche Beherrscher und Besitzer“ , der einzige Vollender der Geschichte des Orients
sein kann und sein wird. Die Schwingen des russischen Adlers haben sich schon zu mächtig
über Asien ausgebreitet, um in dieser Beziehung, noch den leisesten Zweifel walten zu lassen.
In der organischen Verbindung mit diesen segensreichen Erdstrichen soll das wahre Unterpfand
unserer eigenen Zukunft Hegen.
Es lässt sich ungezwungen die gewiss bemerkenswerthe Parallele ziehen, dass fast zu derselben
Zeit wie unsere Kosaken auch die tapfern Portugiesen dem Drange nach Osten folgten.
Das kleine Königreich, das Lissabon zur Hauptstadt hat, trat früher als die ändern europäischen
Staaten in sehr innige Beziehungen zu entlegenen, unbekannten Ländern. Wie wir unter dem
Tatarenjoch, so waren die Portugiesen unter der Herrschaft der Mauren erzogen, und im Kampfe