
Barfüssige -Stutzer (anders sieht man sie gewöhnlich nicht), die unter englischem Einfluss .
sich, theilweise nach der Mode costümiren wollen, prangen hie und da mit gestärkten Hemden
über ihrer Nationaltracht und tragen unförmliche Sonnenschirme. Im allgemeinen jedoch bewahrt-.
das Aeussere der Stadtbewohner die volksthümlichen typischen Züge und flösst volles Interesse
ein. Das Gepräge der Weichlichkeit und Weiblichkeit haftet zwar den Eingeborenen an, für
die sie von der Feder des unsterblichen Macaulay'so schonungslos gebrandmarkt worden sind;
man vergesse aber nicht, dass die Bengalen in gewissem Grade die Sklaven unerträglicher klimatischer
Verhältnisse sind. Sie verdienen daneben ohne Zweifel eine unparteiischere Anerkennung
für ihre wunderbare Fähigkeit, im Widerstande gegen die Einflüsse einer ihnen feindlichen Fremd-
cultur ihre Eigenart zu bewahren. Europäisch gebildete Eingeborene werden liier mit dem an
Spott anklingenden Namen „Babu“ bezeichnet, der im Munde eines britischen Beamten nicht
selten Verachtung ausdrückt... Darin äussert sich unter ariderm der Antagonismus zweier begabter
Rassen, der angelsächsischen und der indisch-arischen.
Die zur Zeit interessanteste, brennendste Frage, die zweifellos das ganze auch nur einiger-
massen gebildete ' und wenn auch künstlich zu höherm Bewusstsein erweckte Indien im Innersten
aufgeregt hat und mit jedem Jahre stärker aufregt, bildet der stille, doch hartnäckige Kampf für
die Würdigung der Idee von Nationalcongressen und für das von der Regierung den Eingeborenen
gewährte Versammlungsreeht Es ist einige Jahre; her, dass den Eingeborenen eingeräumt wurde,
laut zu denken (nicht etwa nur in den Spalten der. leichtsinnigen Pressé), wobei die „Nativessich
allerdings ziemlich geräuschvoll über ihre autonomistischen Bestrebungen ausliessen. Diese
sind.ständig im Wachsen und gehen scheinbar, aber noch lange nicht sicher, der Verwirklichung
entgegen.' Gleichzeitig lassen sich, jedoch schonungsloser als je , . die verürtheilenden Stimmen
der ultraconservativen englischen Zeitungen und der höheren Verwaltungsbeamten vernehmen.
Hält doch die Mehrzahl von ihnen allein schon den Gedanken, für ungeheuerlich, dass die
schwatzhaften Babus es sich beigehen lassen sollten, die Liberalen zu spielen, vön Unabhängigkeit
zu träumen und den abendländischen Constitutionalismus nachzuäffen.
Schon in den sechziger Jahren wurde von einem der besten Kenner des Landes, Sir John
Lawrence, hingewiesen auf die den indischen Dorfgemeinden von altersher innewohnende. Fähigkeit
zur Selbstverwaltungen grösstem Maassstab. Diese gewissermaßen mikroskopischen Republiken
haben jahrhundertelang friedlich geblüht, solange sich niemand in die innern Angelegenheiten
der Bauern einmischte und man diese vollständig dem natürlichen Gange ihrer. Entwickelung
überliess. Nach der Ansicht des genannten Staatsmannes sollten sich die Behörden die so
überaus glücklichen Charakteranlagen der Bevölkerung zu Nutze machen und sich in . gar nichts
einmischen und auch nichts bevormunden, was in den Bereich des harmlösen Innenlebens des
Landes gehöre.
In dèn achtzigèr Jahren erwachte in Indien eine intensive geistige Bewegung zum Schutze
der angeblich misachteten bürgerlichen Rechte des europäisch gebildeten Theils der einheimischen
Bevölkerung. An die Spitze der so gestimmten Eingeborenen stellten sich mehrere liberal denkende
Engländer: ihre Heimat bildete ja zu allen Zeiten in geistiger Beziehung in so hohem Grade die
Verkörperung des Individualismus und des Protestes auf dem Boden der Legalität, dass der
Einfluss, seiner Literatur und seines gesammten Culturlebens sich naturnothwendig in dem
Geiste der Hindus 'abspiegeln musste. Thatsächlich ist er auch unverkennbar in der ganzen
herangereiften Generation jener, die den Bestand des sogenannten „Jungen Indiens“ ausmachen
oder, richtiger gesagt, darstellen wollen. Diese erst im Entstehen begriffene Grösse ist gemeiniglich
ebenso sehr der Gegenstand vieler Verfolgungen, als auch noch grösserer, obgleich gewisse
Bedenken erregender Erwartungen.
Die Congresse versammeln sich nun schon sechs aufeinanderfolgende Jahre; der letzte fand
in Kalkutta statt und dauerte bis etwa vierzehn Tage vor unserer Ankunft. Der Vicekönig und die
einflussreichsten Beamten entzogen sich der Einladung, die ihnen so unangenehme Versammlung
zu besuchen; das europäische Element war nichtsdestoweniger durch einen aus England gekommenen
Publicisten, wenn-mich mein Gedächtniss nicht trügt, durch ein Parlamentsmitglied, vertreten.. Von
den schwülstigen naiven Reden beredter Eingeborener, aber auch von den heissen Versicherungen
wechselseitigen Einverständnisses und Antheils seitens ihrer „weissen“ Freunde haben die mir
unter die Augen gekommenen Zeitungen bislang kaum erst flüchtig Notiz genommen, aber auch
diese spärlichen Notizen gewähren ein höchst interessantes Material zum Nachdenken, da solche
sociale Erscheinungen in Zukunft die Ruhe des Landes bedrohen. können. Wurde doch auf dem
letzten Congress, dessen Sitzung drei Tage dauerte, der Beschluss gefasst, die Regierung um die
Einsetzung einer eigenen königlichen Commission zu bitten zur Untersuchung, wie es mit der
Verwaltung Indiens im Lande selbst und von England aus stehe! Entschlüpfte doch dem Congress
die Misbilligung der Politik, die zur Eroberung Birmas führte; und den Plänen der Regierung, neue,
verstärkte Rüstungen auf Kosten der indischen Finanzen dürchzufuhren, wurde principielle Misbilligung
zutheil! Eine solche Erledigung verschiedener Tagesfrägen ist einstweilen der Anfang.
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die „Times“ sich über das dreiste Gerede solcher Con-
gresstheilnehmer schaff auslässt
Hier und da schimmert aus den uns in ehrerbietiger Entfernung umgebenden dichten
Völksmassen der lackirte Kopfschmuck einfcs Parsi, der goldige Turban eines Muhammedaners,
die grüne oder purpurne Kopfbinde'eines aus dem Westen des Landes angelängten Hindu hervor.
Hier erblickt man einen Eingeborenen im bunten „Kinkob“ , dort einen in feingeblümtem hellem
Atlas oder in Benares-Brocat oder gar einen, der sich stolz einen Kaschmirshawl umgethan hat
Sobald die vierspännige Equipage des Vicek-önigs mit dem Vorreiter und dem Kutscher
in effectvoller,. goldgestickter Purpurlivree sich den Weg durch die dichte Menge'bahnt, schwenkt
aus den Fenstern, von den Dächern und Terrassen herab alles, was europäisch heisst, sein
Taschentuch und seinen Hut.
Die bedeutendsten Handelsfirmen haben die Fassaden ihrer Gebäude mit einer Ueberfiülle
von Flaggen und Fahnen von jeder möglichen Grösse geziert.
, Unübersehbare Zuschauermassen wachsen gleichsam aus der Strasse hervor. Die Städter in
Bengalen scheinen nach ihrem Benehmen zu schliessen ausserordentlich disciplinirt zu sein. Sie
haben etwas ganz .Europäisches an sich in Bezug auf den feinen TakL mit dem sie sich in
der Menge zu benehmen wissen. Sie in einem:so zahlreichen Volkshaufen in unmittelbarer Nähe,
zu sehen, ist um so interessanter, als diese ganze Masse erst vor kurzem' noch an den Freüden
und Beschwerden der erwähnten Congressbesucher im Herzen theilgenommen hat
Die Atmosphäre, in der jene Volksmänner handelten, oder — der Wahrheit die Ehre! —
vielmehr nur redeten, hat sich einstweilen noch nicht verändert
‘ Für Indien einen Nationalcongress zu organisiren, dürfte keine leichte Arbeit sein!' Die
Sache hätte sogar' ihre materiell sehr grossen Schwierigkeiten. So handelte es sich bei den
unlängst abgehaltenen Versammlungen, darum, wie 6000 Mitglieder unterzubringen sind.
Ein. provisorisch aus Bambus und Bastmatten erbautes Auditorium von 80 Meter Länge
und 40 Meter Breite musste sie aufnehmen. Verschiedene Schulen liehen ihre Bänke; 400p Stühle
wurden extra aus Wien verschrieben. Aber der Dampfer, der diese Bestellung aüsfuhren sollte,
litt Schiffbruch; allein schon die daraus entstehende Verlegenheit machte den Veranstaltern des
Congresses nicht geringe Sorge.
Orientreise. II; : j