
damals Asien und Europa erfüllte. Gegen 700 000 Leichen blieben an dem Schreckenstage innerhalb
der Mauern der unglücklichen Stadt liegen. Ihre Bewohner haben, obwol inzwischen zweieinhalb
Jahrhunderte verflossen sind, die furchtbare Strafe noch nicht vergessen und sind auf den Pekinger
Hof nicht gut zu sprechen. Die eingeborene, leicht ins Feuer gerathende Bevölkerung hat den
Regierungsbeamten der Hauptstadt oft nicht geringe Aufregung und Kränkungen aller Art bereitet.
Die hauptsächlichsten traurig verlaufenen Kriege des Himmlischen Reiches mit den Mächten hätten
als erste Ursache stets den Volksunwillen an den Ufern des Perlenstromes.
Kanton verhält sich von früher her gegen die Vertreter des Abendlandes feindselig. Dieselben
nach den Regeln der Gastfreundschaft ehrenvoll zu empfangen, den verhassten Fremdländern
auf höfliche Weise einen verbindlichen Willkomm zu entbieten, ist hier in dieser Stadt, die so
viel von ihnen zu leiden gehabt hat, für einen chinesischen Patrioten
bis zur Stunde fast undenkbar. Als Prinz Bonaparte das Delta besuchte,
wurde er vom Vicekönig nicht einmal in einfacher Audienz
empfangen. Der englische Viceadmiral Hamilton erhielt fast gleichzeitig
mit genanntem Prinzen dieselbe Absage. Der Commodore des
österreichischen Kriegsschiffes „Nautilus“ versuchte im Jahre 1886
das Oberhaupt der umliegenden Provinzen zu sehen, wohl wissend,
dass der letztere gegen die Flagge seines Vaterlandes keinen Widerwillen
nähren - könne. Unter dem Vorwande eines Unwohlseins
wich jedoch der Statthalter des Bogdychan mit Entschuldigungen
dem Besuche aus.
Kanton zählt nach der Schätzung von Kennern desselben etwa
1 *¡2 Millionen Einwohner, -von welchen mindestens ein Viertel beständig
auf dem Wasser leben, wo sie so urzeitlich einfach sich eingerichtet
haben wie die Flussbewohner von Bangkok. Ganze
Generationen werden auf dem schwankenden Boden dieser schwimmenden
Wohnungen geboren und sterben. Es sind dies richtige
Zelte, die aus Rohr geflochten und mit Matten bedeckt werden. Vor
c h in e s is c h e r e l e g a n t denselben wird' auf dem Verdeck Essen gekocht, spielen die Kinder,
und trocknet man die Lappen, ja zuweilen wird auf demselben sogar
ein winziges Gärtchen angelegt. Auf dem Strome huschen jeden
Augenblick die Boote hin und her, einem Ungeheuern, vier Meter langen Schuh ähnlich. Muskulöse
Weiber mit hohen, eingefetteten Frisuren und originellen silbernen Ohrringen arbeiten an
dem mächtigen Steuerruder und lenken die Schiffe trotz deren Ungeschlachtheit und der bedeutenden
Schnelligkeit des' Stromlaufs mit kühner Hand. Auf leichten Kähnen rudern graziös an-
muthige Mädchen mit aufgelösten Haaren.
Das schäumende Leben und Treiben um uns herum spottet jeder Beschreibung. Und
trotzdem das Gerede von der Schlafhaubennatur dieser Asiaten! Man muss sich wundern, wie
trotz der unaufhörlichen Signalpfiffe und Glockenzeichen unsers Dampfers das die Freiheit seiner
Bewegungen hemmende, kummervoll sich abmühende Flussvolk nicht öfters versinkt. Unglücksfälle
kommen übrigens, wie man sagt, nicht selten vor. Diejenigen, denen ein Unglück widerfahren
ist, was gewöhnlich durch ihre eigene Schuld geschieht, reichen sofort auf dem Bureau der
Dampfer-Gesellschaft eine Klage ein, auf welche Entschädigung erfolgt. Um die Möglichkeit von '
tödlichen Unglücksfällen unter der auf dem Strom aufwachsenden Kinderwelt wenigstens nach
Kräften zu verringern, legt man ihnen öfters um den Leib breite Stücke einer leichten Holzart,
die bei drohender Gefahr als Schwimmgürtel dienen können.
Wenn man einen Blick auf diese gutmüthigen Gesichter des in der ganzen Welt
bekannten, übel beleumundeten Pöbels von Kanton wirft -|||und hier lebt ja die hungerigste,
bitterste Armuth Südchinas —, so fragt man sich: ist nicht die angebliche Unzufriedenheit im Innern
Chinas gegen Europäer tendenziös übertrieben? Nicht die Chinesen bedürfen der überseeischen
Eindringlinge, sondern diese haben es auf die natürlichen Reichthümer des Himmlischen Reiches
abgesehen. Die Bewohner von Kanton, die Einwohner Chinas überhaupt haben keinen Grund,
auf die weissen Abenteurer grossen Werth zu legen, die zudem in erster Linie einzig nur Dro-
LI-HANG-TSCH ANG.
hungen und Gewaltmaassregeln anerkennen. Es kann gewiss nicht schaden, öfters daran zu erinnern,
dass manche von ihnen hier auf fremdem Boden, in fremdem Lande stehend wahrhaftig
gar zu oft ungenirter wirthschaften, als sie es sich daheim erlauben würden.
Den Grund zu unmittelbaren Beziehungen des fernen Abendlandes zu dem gelben Morgenlande
haben reiche syrische Kaufleute gelegt. Die arabischen Factoreien des Mittelalters, die in der
Folgezeit in Kanton errichtet wurden, glichen wahrscheinlich in vielen Beziehungen den viel später
von den Europäern betriebenen. Die Glücksritter wussten sich hier schon damals besondere
Rechte der Exterritorialität zu verschaffen und scheuten sich gelegentlich auch nicht, mit den Eingeborenen
in Kampf zu treten. Im Jahre 758 steckten Seefahrer von den Ufern des Persischen
Golfs in aller Seelenruhe Kanton, das mit ihnen in freundschaftlichen Handelsverkehr
getreten war, in Brand und machten sich dann auf schnellsegelnden Schiffen davon. . Das „Timeo