
Von Hongkong bis Kanton sind es 160 Kilometer. Bald ist es Mittag. Das Fahrwasser,
färbt sich braun. Vor der Einfahrt in den „Perlenfluss“ , an welchem Kanton liegt, ist der sogenannte
„Tigerrachen“ hingelagert, die portugiesische Boca tigfis, von den Engländern verballhornt
in Bogue. Der Name rührt zum Theil davon her, dass die Schiffe hier durch eine schmale Meerenge
gehen, welche die sogenannte „Tigerinsel“ beim Anfang des Flussdeltas umschlängelt: diese
Insel erinnert mit ihren Umrissen an einen Tigerkopf. Der Hauptgrund für die Benennung wird
aber wol der sein, dass die hiesigen Festungswerke einst überall als im höchsten Grade furchtbar
und unüberwindlich galten. Die europäischen Geschütze haben ihnen jedoch in der Mitte des'
gegenwärtigen Jahrhunderts mehr als einmal auf das grausamste mitgespielt.
Die Umgegend nimmt allmählich einen grossartigern Charakter an, dank der Nähe der
hohen Ufer, an welchen entlang sich die neuerrichteten Forts hinziehen und von woher der Gruss
der Geschütze donnert Der breite Strom gewinnt mit den reisbepflanzten Inselchen das Aussehen
eines Sees. An den sichtbarsten Punkten und an den Abhängen der Hügel entlang sind
Soldaten mit im Winde flatternden Fahnen aufgestellt. Der nach dem Befehle Li-hung-tschang’s
Seine Kaiserliche Hoheit von Hongkong aus begleitende Inspector der Kriegsschule von Tientsin
erzählt uns, dass von der Regierung alle Maassnahmen getroffen sind, um den russischen Thronfolger
auf chinesischem Boden ungewöhnlich festlich zu empfangen und in seiner Person Chinasältesten
und besten Freund zu feiern, Russland, um ihm in beredter Sprache Chinas Bereitwilligkeit
zu beweisen und die Bande freundnachbarlicher Eintracht noch enger zu knüpfen.
An den Felsvorsprüngen der. Stromenge bemerkt man Batterien: bis hierher sind Armstrong
und Krupp vorgedrungen! Kühn ragt am Horizont die erste sieben Stockwerke hohe
Pagode in die Luft empor. Diese Erscheinung, kündigt deutlich den Anfang Chinas an. Solche
Gebäude sollen nach dem Volksglauben dem von ihnen beschatteten Umkreis Glück und Segen
bringen.
Kleine Schiffe unter einheimischer Kriegsflagge dampfen uns entgegen. Das Geschwader
Von Kanton besteht aus 17 Kanonenbooten, deren Aufgabe es in erster Linie ist, die zwischen
den unzähligen Inselchen des südchinesischen Meeres sich verbergenden Seeräuber zu verfolgen.
Auf dem Perlenstrome kreuzt ausserdem eine Flottille von 20 Torpedobooten.
Die erfrischende Luft gibt unserer Fahrt aus der Stadt Victoria hierher einen ausserordentlichen
Reiz. Alles muthet uns mit dem Interesse des Neuen an, in dem Rahmen einer malerischen
Landschaft von streng festgehaltenem Colorit.
Die hell lilafarbenen befestigten Anhöhen, die auch nicht einen Hauch von Vegetation
aufweisen, wechseln in der Nähe der Strommündung ab mit Feldern, die hier und da Bambüs-
gebüsche und Obstbäume tragen. UeberaU glitzern Kanäle. Der Dampfer geht an eingerammten
Pfählen 'im Strombette vorbei, zwischen welche die Chinesen sand- und steinbeladene Boote
sinken Hessen, in der Hoffnung, die Einfahrt nach Kanton vor ausländischen Flotten sicherer zu
stellen. Ein Invasionsheer braucht sich allerdings nur an einem beliebigen nicht verteidigten
Punkte des Strandes festzusetzen und die nicht complicirten Hemmnisse zu entfernen. Ein anderes
Volk • würde alle von der modernen Kriegskunst an die Hand gegebenen Mittel auf die Verteidigung
des „Tigerrachens“ verwenden, die Bewohner des Himmlischen Reiches aber halten es
in ihrer Herzenseinfalt noch nicht für nöthig, ihr gutes Gold daran zu verschleudern. Früher
oder später werden die Einwohner von Kanton dafür gehörig zu büssen haben.
Bei dem Oertchen Wampoä kommt dem Grossfürsten-Thronfolger der Adjutant des Vice-
köriigs -entgegen, ebenso stellt sich der zur Disposition des Grossfürsten beorderte französische
Gonsül vor, der -hervorragende Sinologe Imbäult-Huart.
. . . Da werden in der Ferne soeben die obersten Spitzen der Stadtmauern und Pagoden sichtbar.
In dem Maasse, wie sich Kanton in seiner Gestalt zeigt, macht diese unförmlich graue Masse
kläglicher Wohnungen mit den vielen Thürmen über ihr, in welchen die Bürger das ihnen
momentan unnöthige Ejgenthum, das sie auf Unterpfand ausgegeben, auf bewahren, macht dieses
Häusermeer in Wahrheit einen ziemUch abstossenden Eindruck. ErbUckte man nicht die weisse
Façade des im gothischen Stile gebauten, noch nicht vollendeten katholischen Domes, der aus dem
einfarbigen trostlosen, nicht einmal durch Strassen untereinander verbundenen Häusergewirre hervorragt,
der Eindruck wäre noch viel schHmmer.
Die christUche Kirche der kleinen Gemeinde von Eingeborenen ist zum Theil mit Hülfe
der Mittel errichtet worden, die aus der vor dreissig Jahren den Chinesen von den Engländern
und Franzosen auferlegten Contribution flössen. Natürlich kann das Gotteshaus infolge der abergläubischen
Furcht, welche die Eingeborenen vor sehr hohen Gebäuden empfinden, dem sonst in
Glaubenssachen toleranten, jedoch conservativ und patriotisch gestimmten Volke nicht gefallen.
Der Tempel ist auf dem Platze der Residenz des von den Briten gefangen genommenen Vice-
königs Yeh errichtet.
Kanton ist die Hauptstadt der zwei colossalen Provinzen Kwang-tung und Kwang-si mit
einer Bevölkerung von mehr als 50 Millionen Seelen. Einst prangte sie als ein Centrum des Welthandels,
als der Brennpunkt des Verkehrs des Reiches mit dem Abendland, als der Haupt- und
sozusagen einzige Punkt des Verkaufs überseeischer Waaren in China. Dies lässt sich auch begreifen,
wenn man nur die Entwickelung der benachbarten Uferlinie ins Auge fasst und die Verzweigung
der Wasseradern im Delta des „Perlenstromes“ in Erwägung zieht, dessen System Sich
nach Norden bis zu den Bergen ausdehnt, die die Wasserscheide des Jangtsekiang bilden, nach
Westen aber bis zu den Hügeln von Yünnan reicht. Dieser blühende Landstrich wird von einem
energischen, arbeitsUebenden Volke bewohnt. Die Steinkohle und das Eisen, die hier gefunden
werden, sichern ihm eine interessante gewerbHche Zukunft. Nur eins ist schade: die Eingeborenen
selbst kommen nur sehr langsam zu Verstand im modern technischen Sinne des Wortes.
Das geschichtUche Leben Kantons beginnt nach historischen Urkunden mit dem vierten
Jahrhundert vor Christi Geburt Schon damals befand sich an dieser Stelle ein bedeutendes, befestigtes
Centrum des Südens des Reiches, das mehr als einmal in der hiesigen Gegend seinen
Platz gewechselt und seinen Namen geändert hatte. Damals bildete dieser Landstrich, der noch theil—
weise mit wilden Ureingeborenen bevölkert war, noch lange nicht einen organischen Bestandtheil der
chinesischen Welt, sondern erhob sich sogar oftmals gegen dieselbe in blutiger Meuterei. Dazu
kam, dass die Könige im nördHchen Hinterindien Feldzüge hierher unternahmen, um sich entweder
das Delta des Perlenflusses zu unterwerfen oder doch wenigstens den Handel nach den Küsten
Cochinchinas abzulenken. Die Bewohner von Kanton zahlten im Alterthum bei passenden Gelegenheiten
derartige Ueberfälle grausam heim. Denn das Volk zeichnete sich hier schon von jeher durch ungestümen
Charakter aus und machte jeder Regierung, trotzdem dieselbe die Widerspenstigen sogar
gelegenflich in Kesseln sieden oder langsam am Feuer braten Hess, ausserordentlich zu schaffen,
bevor es ihr gelang, die Pöbelmassen zu bändigen. Der Hang zu fabelhaftem Luxus, den die Behörden
auf aus der Hauptstadt ergangenen Befehl streng verfolgten, zusammen mit dem Antagonismus der
Stämme der Südländer und der Nordländer, riefen am Perlenstrom oftmals hartnäckige Aufstände
hervor. Zum letzten mal entbrannte der wüthende Kampf bei der Thronbesteigung der
Mandschu-Dynastie. Die an Hinterindien anstossenden Provinzen wollten sich dieser durchaus
nicht unterwerfen. Die neuen Herren des Reiches nahmen nach elfmonatUcher Belagerung
Kanton mit Sturm, ertränkten, es in Blut, zerstörten es fast ganz und verschonten aus egoistischen
Motiven nur einen Theil der geschicktesten ortsansässigen Handwerker, deren künstlerischer Ruhm
Orientreise. II. • 68 '