
die Eingeborenen verhielten sich der Religion gegenüber indifferent und hingen in Wirklichkeit gar
keinem Cultus an. Dem ist aber nicht so. Die Hauptrolle im Leben jedes Einzelnen sowie in der
ganzen gesellschaftlichen Lebensordnung spielte von alters her die Verehrung der verstorbenen
Eltern und der Ahnen. Keine auflösenden philosophischen Theoreme sind im Stande gewesen,
den Ahnencult ins Schwanken zu bringen oder den Charakter des mit ihm verbundenen Ceremoniells
zu zerstören.
Wenn der Mensch seine hinfällige Leibeshülle verlässt, setzt er nach der Ansicht der
Chinesen sein Leben nach wie vor in Freud und Leid fort; er bedarf der Liebe und Sorge
seiner Anverwandten und leidet an Vereinsamung.
Der unbefriedigt kummervolle
Zustand der -Seele der in die
jenseitige Welt Abgeschiedenen spiegelt
sich unangenehm wider im Dasein der
Lebenden und stürzt sie in Angst und
Schrecken. Deshalb ist es nothwendig,
die Todten zu bewirthen, sich ihrer
Zuneigung versichert zu halten und
ihnen Verehrung zu erweisen. Anfänglich
vollzog sich die Verehrung auf den
Grabmälern, dann aber machten es die
Umstände nothwendig, für diesen Cult
eigene Hausaltäre zu errichten und daselbst
in besondern Gelassen Täfelchen
mit den Namen der unvergesslichen
theuern Hingeschiedenen anzubringen.
Tag für Tag begibt sich das Familienoberhaupt
an diese Stätte, um
seine Ehrfurcht zu bezeigen, Räucherwerk
anzuzünden, zur bestimmten Zeit
Opfer darzubringen , den unsichtbaren I
Schutzgeistern seines Herdes über alle
sein Familienwohl berührenden Kleinigkeiten
zu berichten u. s. w. Um die
DIE JUNGE. GENERATION CHINAS. , r , . , . . . , ,
Verbindung mit der unsichtbaren Welt
zu vervollständigen, nehmen die Lebenden
ihre Zuflucht zur Wahrsagerei, zum Spiritismus u. s. w. Der Wille der Ahnen leitet die Handlungen
der frommen Nachkommen, die nicht leben wollen, ohne bestimmt zu wissen, welche
Lehre die Vergangenheit ertheilt. Letztere gibt nur gute Rathschläge, wirkt veredelnd durch die
Aufzählung glänzender Tugendbeispiele und bedroht mit harter Strafe den Abfall von uralten
heiligen Gebräuchen.
Der Cultus der verstorbenen Verwandten konnte in China um sö erfolgreicher blühen *
als Väter und Mütter von den Kindern nirgends so hoch verehrt werden als hier. Die junge
Generation wächst durchweg mit dem Gedanken an die Achtung auf, die sie dem Alter
schuldet Ernstlich bestrebt, von Kindesbeinen an Alle zur Erfüllung dessen anzuleiten, was im
Princip als Pflichtschuld anerkannt ist, sieht man dort der Jugend nicht alle Launen, Eigensinnig-
; keiten, Halsstarrigkeit, Ungehorsam, Selbstsucht und Falschheit schwachmüthig nach, sondern rottet,
solange es Zeit ist, die schlechten Eigenschaften aus oder erstickt sie im Keime. Die Neigung
der Unmündigen auf dies oder jenes mit Hülfe von Naschwerk oder eines wenn auch unschuldigen
Betruges zu lenken, gilt für unerlaubt.
Die Eltern fordern nicht allein theoretische Kenntniss der Ethik, sondern bestehen auch auf
deren praktischer Anwendung. Zu diesem Ziele gelangen sie ohne Strafen; von der Wiege an
flössen sie den Kindern Gehorsam ein und lehren sie, sieh selbst Schranken zu setzen. Die miteinander
durch nächste Blutsverwandtschaft Verbundenen bilden ein gemeinsames Ganzes und finden
sich zur Förderung des Gemeinwohls in Versammlungen zusammen, wo die jungen Männer nützliche
Sentenzen laut vorlesen, dann aber jeder der Anwesenden eingeladen wird, frei und aufrichtig
zu bekennen, ob er nicht mit diesen oder jenen Schwierigkeiten des Weltlaufes (Schulden, Steuerrückständen,
Rechtshändeln u. s. w.) zu kämpfen habe. Jede
Angelegenheit wird gemeinsam geprüft, für jede Sache eine Erledigung
gesucht, und wenn die Möglichkeit vorliegt, springt
man der Noth des. Verwandten mit einer Geldsammlung bei.
Dieses Verfahren verhindert vor allem die Vermehrung der Bettler,
deren es in China wenige gibt. Es kann übrigens einer auch nicht
leicht ein Proletarier werden, solange er nicht seine nächsten
Ijflutsverwandten von sich zurückgestossen hat. Dann aber hält
diese Unterstützung der Armen durch ihre Verwandten nicht
selten von Verbrechen zurück.
Das Weib ist als Mutter und Frau verhältnissmäSsig hoch
gestellt; sein Leben ist von fremden Einwirkungen und Verführungen
möglichst abgeschlossen. Die Ehen werden nach dem
Ermessen der Eltern. und der „Berathung mit den Ahnen“ eingegangen,
ungesetzliche Verbindungen werden nach Landessitten
nicht geduldet. Trotz dieses scheinbaren Zwanges finden die
jungen Eheleute nicht selten ihr Glück. Der Ehe vorausgehende
Liebesgefühle fallen eben nur selten zu Gunsten der Zukunft aus,
erst die Zeit kann das gegenseitige Verhältniss des Ehepaares befestigen
und bewusste Liebe entwickeln.
Vom gemeinen Mann bis hinauf zum Monarchen sind alle
CHINESIN *
(nach einer einheimischen Zeichnung).
von dem Bestreben durchdrungen, die Thaten der Vorfahren im
Gedächtniss zu behalten, da man in jedem Augenblick des Lebens
seine Abhängigkeit von den Geistern fühlen muss. Alljährlich pflügt der Bogdychan in der
Haupt- und Residenzstadt ein Stück Land persönlich, die höchsten Beamten thun dasselbe in der
Provinz, die Kaiserin aber füttert Seidenraupen.
In Europa glaubt man, die Behörden wollten auf diesem Wege beim Volke die Lust zur
Arbeit erwecken. Dies ist nicht ganz richtig. Der Kaiser und die Kaiserin geben nicht blos ein
Beispiel der Arbeitsliebe an und für sich, sondern auch der kindlichen Ehrfurcht, die der Ahnen-
cultus erfordert und deren Resultat die Arbeitsliebe ist.
Die Sorge für die Wohlfahrt der Wesen in der Welt des Jenseits grenzt allerdings zuweilen
an das Seltsame. Stirbt z. B. ein Knabe, so darf man ihn nicht für immer ledig lassen, er würde
sonst in der neuen Welt vor Langeweile vergehen. Deshalb suchen die Eltern den Namen eines
verstorbenen Mädchens ausfindig zu machen, dessen Geburts- und Sterbetag dem des Knaben
astrologisch günstig entspricht. Dann wird deren „Hochzeit nach dem Tode“ arrangirt. Zur bestimmten
Zeit führen sie die'^den Bräutigam darstellende Puppe ins Haus der Braut, von dort kehrt
Orientreise. II. * *" • r V * . V 67