
Worauf hat sich wol eine so absprechende Ansicht zu gründen vermocht? Ging sie aus
der Beobachtung hervor, dass die Eingeborenen des Reiches der Mitte nicht nach Art der bewusst
modernen Japaner urplötzlich in unbeschreibliches Entzücken geriethen über den aufgeklärten
Zustand Europas und Amerikas?
Gleich den Hellenen, denen lange Zeit alles Fremdländische für barbarisch galt, hegen die
Chinesen als Masse für das Abendland gründliche Verachtung und halten den Gesammtbau ihrer
eigenen Lebensordnung, die Frucht ihrer eigenen, ungezählte Jahrhunderte der Entwickelung
umfassenden Civilisation für eine Errungenschaft, die der ganzen Welt zum Vorbild dienen könne
und solle. Das „Reich der Mitte“ nennen sie ihr Vaterland, welchen Namen übrigens auch die"
alten Inder und Iranier ihrem Lande geben.
Herder blickte auf^das Himmlische Reich als auf eine einbalsamirte, mit Hieroglyphen verzierte,
in Seide gehüllte Mumie. Andere Denker verglichen diesen starren, halbschlummernden
Riesenstaat mit einem Sumpf und sagten China eine baldige Auflösung, den bevorstehenden
Untergang voraus.
Als Vertheidiger des Himmlischen Reiches trat in unserm Jahrhundert der italienische Schriftsteller
Ferrari auf. In dem von ihm herausgegebenen Werke „La Chine et l’Europe“ sucht er zu
beweisen, dass Chinas Entwickelung der abendländischen parallel lief und dieselben Umwälzungen
im Reiche des Geistes durchmachte.
„Philosophen lehrten dort fast g j j selben Zeit wie Pythagoras. Eroberer traten zur Zeit.
Alexanders des Grossen und der Römer mit ihren Ruhmesthaten auf, Barbaren brachen in das Reich
zur selben Zeit ein, als die Cultur der Cäsaren von solchen zerstört wurde. Die kaiserliche Gewalt
bekleidete sich mit der Würde des Hohenpriesters Zur Zeit des Papstes Gregors des Grossen. Die
chinesische Gelehrsamkeit blühte zur Zeit Abälard’s und des Thomas von Aquino.: Die dramatische
Kunst erreichte einen gewissen Grad der Vollkommenheit, als in Italien die „Göttliche Komödie“
geschaffen wurde. Die besten Dichter des Himmlischen Reiches, sein Zeitalter der Wiedergeburt
und des Studiums seines Alterthums stehen zeitlich der Epoche des Petrarca und Boccaccio nahe
und entsprechen dem Wiedererwachen der classischen Welt Der Westfälische Friede und die
Französische Revolution finden ebenfalls ihre Analogien in der Geschichte Chinas. Während zwei
Drittheilen seiner Existenz ist es Europa um eine Generation voraus. In der mittelalterlichen
Periode fallen dort und hier die bedeutungsvollsten Jahre so genau zusammen, dass diese Ueber-
eiüstimmung ans Wunderbare grenzt Vom Jahre 1400 an bleibt China vielleicht um dreissig
Jahre zurück.“
Mit ändern Worten, zwischen beiden voneinander so ungeheuer weit entfernten Ländern
herrscht ein geheimer Zusammenhang. In der abstract gedachten Seele der Menschheit entwickelt
sich gewissermaassen parallel eine und dieselbe schöpferische-Thätigkeit Die Chinesen lebten und
leben ganz normal, an der Hand fester, altersgeheiligter Grundsätze, die ihren gesammten Staatsorganismus
beseelend durchdringen.
Als China mit dem Abendlande zuerst in Berührung trat, gerieth es anfänglich über dem
Anblick von dessen materieller Macht in Bestürzung. Aber weil es von alters her seine Blicke
hauptsächlich auf alles Irdische richtet, sich besonders die Wohlfahrt in „diesem“ Leben angelegen
sein lässt, viele Millionen von Positivisten erzieht und einer streng militärischen Auffassung
der Dinge huldigt, haben die Söhne des Himmlischen Reiches, die Verdienste der Fremdcultur
weder gering schätzend noch übertreibend, beständig fortgefahren, sich dieselben langsam und mit
grösster Vorsicht anzueignen, in demselben Maasse, wie sie sich fähig erwies, den mannichfaltigen
Bedürfnissen und natürlichen Verhältnissen des Landes zu entsprechen. Die verschiedenen äusser-
lichen Details der abendländischen Cultur sind für die Chinesen nicht unterscheidbar. Sie hängen
mit allzu grossem Stolz an ihrer eigenen Civüisation, als dass sie ohne jede Auswahl blindlings
nach allem Ausländischen greifen würden. Zugleich aber auch sind sie viel zu praktische Leute,
als dass sie aus derselben nicht alles Vortheilhafte behutsam auswählen würden;
Das erste, womit sie Erfolg hatten, war: sie machten sich den Ankömmlingen von Anfang
an unentbehrlich. Nicht ein einziger Ankömmling aus dem Abendlande ist im Stande, der
Hülfe und Vermittelung der Eingeborenen zu entrathen, d. h. er ist thatsächlich nicht im vollen
Sinne Herr und Meister irgendeiner Unternehmung. Sie treten als die besten Köche auf, unterziehen
sich jeder häuslichen Dienstarbeit, bewähren sich als geschickte Handwerker selbst für
abendländische Ansprüche, zeichnen sich aus als Photographen u. s. w. Der musterhafte Gasthof
auf der Insel Hongkong wird von Chinesen gehalten. Des Detailhandels mit europäischen und
amerikanischen Waaren haben sich die bezopften Einwohner des Landes bemächtigt. Man braucht
nur durch die Strassen der wohlgebauten Hafenstädte an der Westküste des Stillen Oceans zu
wandeln, um zu sehen, dass die Läden mit Importartikeln Eingeborenen gehören. In Schanghai
soll man ein Stück Manchester bei einem Chinesen billiger als bei einem Engländer kaufen können.
Da sie auf dem Gebiete des commerziellen Wettbewerbes wahrscheinlich ihresgleichen nicht
haben, so verdrängen die eingeborenen Kaufleute allmählich die Ausländer von ihrem Territorium,
und wer Weiss, ob die Zeit allzu fern ist, wo der gesammte Import und sogar der Export an die
Chinesen übergehen wird. Schon im Jahre 1881 brachte das chinesische Schiff „Mefu“ nach
England .eine Ladung Thee von 32500 Kisten und Strohwaaren. Wenn auch den Söhnen
des Himmlischen Reiches der Gedanke, die Producte ihrer Heimat selbst auf die europäischen
Märkte zu liefern, augenblicklich noch ziemlich fremd ist, so werden sie doch bestimmt über kurz
oder lang-das, Was sie nöthig haben, in der Fremde selbst-einkaufen. Die Neigung dazu ist schon
jetzt zu verspüren. Die erforderliche Energie, Routine und Kapitalien werden sich finden.
Vor dem Jahre 1873 besassen die Eingeborenen nicht einen einzigen Dampfer, gegenwärtig
verfügen sie schon über Dutzende. Die Ausschliessung der Fremden von der Rhederei zwischen
den Häfen Chinas ist ihnen schon fast völlig gelungen; nun gehen sie darauf aus, auch noch den
Waaren- und Passagierverkehr mit Europa und den Vereinigten Staaten auf eigene Rechnung zu
übernehmen. Um nicht in Abhängigkeit von den überseeischen Mächten zu sein, legen die
Unterthanen des Bogdychan vorsichtig Werkstätten und Fabriken an, wohl wissend, dass ihr Vaterland
überreich ist an Seide, Baumwolle, Eisen und Steinkohle. Bald wird die abendländische Industrie
ihre Operationen einschränken und einen beträchtlichen Theil der früher einzuheimsenden Gewinne
den Chinesen abtreten müssen, denn diese sind musterhaft'arbeitsliebend, lernen alles leicht und
verstehen sich in allen Geschäften zum Meister zu machen.
Eine grosse Anzahl einheimischer Jünglinge ergibt' sich eifrig dem Studium der Realwissenschaften.
Die praktischen geistigen Kräfte des Landes erstarken und wachsen von Jahr
zu Jahr. Ihr Ueberfluss drängt unwillkürlich zur Colonisation. Diese lenkt ihr Augenmerk
auf Central- und Südamerika, auf die Inseln des Stillen Oceans und auf Singapur. Das con-
fucianische Princip der Hochachtung der Wissenschaft, der Hang des Volkes zur mühevollen
Aneignung der Weisheit, der sich auf keine Altersstufe beschränkt, mögen als Bürgschaft dafür
dienen, dass in Ostasien mit der Zeit ein grosses aufgeklärtes Volk ins Dasein treten wird.
Für den ironisirenden Blick des Europäers mag das chinesische Leben an seiner Aussen-
seite sich als Caricatur ausnehmen, auch mag man die Chinesen verächtlich „Fanatiker der
Ordnung“ nennen. Allein vom Standpunkte vorurtheilsfreier Kritik aus hält dieser Hochmuth nicht
Stich und wird sich einmal an den leichtfertigen Verleugnern der geistigen Fremdmacht rächen.
Infolge der erstaunlichen Toleranz in Glaubenssachen sowol seitens der .Regierung wie
überhaupt des ganzen Volkes zeigen sich einige oberflächliche Beobachter zu der Annahme geneigt.