
der sogenannte Fortschritt des Abendlandes, der doch im Grunde nur der Anarchie zugute kommt,
wenn vor seinem geistigen Auge erhabene Gestalten emporsteigen, die Gestalten der in langer
Erbfolge mit ihm selbst verknüpften Imperatoren, jener Selbstherrscher, die vom Volkswohl keine
ändern Ideen hatten als die Ideen der Weisen? Welchen Sinn hat für den Bogdychan das Dichten
und Trachten nach dem Modernen, die Jagd nach der Popularität? Die Kaiser von China stehen
von alters her den breiten Massen des Volkes so nahe und doch wieder so unerreichbar hoch über
ihnen, wie sich ähnliche Verhältnisse zwischen Herrscher und Unterthanen nur noch in Russland
ausgebildet und bis auf diesen Tag erhalten haben.
Dank seiner vortheilhaften geographischen Lage
war es dem Himmlischen Reiche bis zu einem,
gewissen Grade leicht gemacht, die Führerrolle
in den vom Ocean bespülten Ländern Ostasiens
und sogar bis in die Tiefen des Continerits hinein
zu übernehmen, und so schlief es an der Schwelle .
des 19. Jahrhunderts den Schlaf der Friedensliebe
und des Stillstandes. Der gelbe Mensch des Fest-
landes hat von Natur aus keine Neigung zum.
Blutvergiessen, keine Lust am Kriegsgetümmel,
überhaupt kein Bedürfniss nach aufregender Anspannung
all seiner Kräfte. Seine Abneigung dagegen
ist instinctiv; sie hat sich, zusammen mit;'
einer gewissen Verachtung alles Militärischen,
unter dem Einflüsse des Bewusstseins entwickelt,
wie ohnmächtig gegen ihn, den gelben Mann,
selbst seine tapfersten, unruhigsten Nachbarn
seien. Das Riesenvolk hat sie entweder als
Rebellen vernichtet oder sie noch öfter sich
durch die Macht seines Einflusses fast unmerkbar
assimilirt. Als ihm nun vom Schicksal be- |
schieden war, neue, höchst gefährliche Feinde,
die Europäer, kennen zu lernen, da gebrach es '
der selbstzufriedenen chinesischen Regierung allzu
sehr an Willenskraft und Energie" der Gefühle,
als dass sie sich die Wahrheit über ihre eigene •
Zurückgebliebenheit einzugestehen vermocht hätte.
Sie fährt noch.immer fort, sich für den Mittel-
HOPE. WÜRDENTRÄGERN AM CHINESISCHEN HOFE. 1«. J t? J 1 1 1 • * , ■Äjpff-~ punkt der Erde zu halten, ohne eine Ahnung ,
zu haben, wie schwer sie diese rührende Selbst-
Verblendung zu büssen haben wird. — Der Bogdychan thront auf einem „Drachen“ -Thron. Die
Person des Herrschers schauen, heisst des Drachens selbst ansichtig werden. In frühem Zeiten,
in den Tagen der Macht, war der „Urahn und Lenker“ Chinas zugänglicher, nicht allein den
Seinigen, sondern auch seinen Unterthanen und den Gesandten aus der unbekannten Fremde.
Heutzutage, da der politische Verfall des Reiches in vollem Gange ist, umgibt den Herrscher eine
strenge Etikette mit grossem Geheimniss und entzieht ihn soviel wie nur möglich auf das sorgfältigste
den indiscreten Blicken der weissen Fremdlinge.
Sonntag, 5. April.
Gestern, am Vorabend der Abreise nach Kanton, fuhr der Grossfürst-Thronfolger in Begleitung
seines Gefolges trotz des Regenwetters um 12 Uhr zum Gouverneur. Unter dem Donner
der Schiffs- und Küstengeschütze, unter den Hurrahs der Schiffsmannschaften begaben sich Ihre
Hoheiten auf dem Kutter der „Pamjat Asowa“ nach dem Hafen, wo den Grossfürsten die Behörden
mit dem Gouverneur an der Spitze und der russische Consul erwarteten.
Der Himmel klärte sich ein wenig auf. Seine Kaiserliche Hoheit setzte sich in den Phaeton
des Sir Des Voeux, den berittene Sikhs escortirten. Für das Gefolge standen Sänften mit chinesischen
Kulis in rother Tracht bereit Der Zug begab sich zum Government House auf den
inmitten tropischer Vegetation links vom Handelscentrum der Colonie gelegenen Hügel. Auf
dem Wege nach der Residenz des Gouverneurs bildeten schottische Soldaten Spalier. Der Besuch
dauerte ungefähr eine halbe Stunde.
Heute Morgen siedeln wir auf den riesigen Raddampfer amerikanischer Construction „Kiang-
Kwan“ über, der der „China Merchant Steam Navigation“ gehört.
Felseneilande tauchen aus den blauen Fluten auf und versinken wieder in der weiten Ferne.
Die Sonne vergoldet die bezaubernd schöne Umgegend immer gleissender und prachtvoller. Wenn
man diese mit Wohlgefallen betrachtet, begreift man, wie Camöes gerade hier für einige
seiner besten Strophen .inspirirt werden konnte.
In frühem Zeiten setzte das Himmlische Reich die Ankömmlinge von den Gestaden des
Indischen Oceans in Erstaunen. Diese brachten als durchaus nüchterne Beobachter kein fertiges
Verdammungsurtheil über die Fremdcultur mit, nur deshalb, weil sie sich nicht mit der eigenen
deckte. Wenn mich mein Gedächtniss nicht trügt, begegnet man in der Vorrede zu Frähn’s „Ibn-
Fozlan’s Bericht“ dem des tiefsten Nachdenkens würdigen altarabischen Aussprüch: „Sucht Kenntnisse
sogar in China.“ So lautet das klar ausgesprochene Urtheil eines „Rechtgläubigen“ der ältesten,
exaltirten Epoche des Koran über das Reich der dem Muhammedaner sonst verhassten Heidenreligionen.
Könnte man heutzutage wol viele Menschen umfassender Bildung finden, die fähig wären,
sich auf den hohen Standpunkt dieser so einfachen Wahrheit zu stellen? Man hält das. Volk der
Bogdychane für etwas Fremdartiges und von vornherein für werth als der Paria der Menschheit
zu gelten.
Schwerlich sind über ein anderes Land widerspruchsvollere Meinungen laut geworden als
über China. Sein ganzer nationaler Grundbau gewährt Europa das lebhafteste Interesse, besonders
wenn man in Erwägung zieht, dass auf dem Ungeheuern Raume, den das Himmlische Reich einnimmt,
fast ein Drittheil des Menschengeschlechts, mit dem Gepräge höchster Originalität ausgestattet,
sein Heim hat. Kein Historiker oder Philosoph sollte es sich entgehen lassen, sich mit
dem Schicksal eines so zahlreichen Volkes vertraut zu machen, eines Volkes, das sich schon längst
eine ganze Reihe von Grundlagen des Culturlebens erarbeitet hat, eines Volkes endlich, in dessen
Charakter die auffallendsten Widersprüche nebeneinander lagern, glänzende Tugenden neben den
schwärzesten Fehlern.
Deutsche Philosophen von der. Schule Hegels verachten das Himmlische Reich, das sie für
das Urbild der Bewegungslosigkeit, des Mangels an jedem Fortschritt ausgeben. In China hat
nach ihrer Ansicht die mongolische Rasse die für ihre Entwickelungsfähigkeit höchstmögliche Stufe
erreicht, ein Stadium, über-welches hinaus sie ihrer Naturanlage nach nicht mehr fortzuschreiten
vermöge; sie bleibe .ein vertrockneter Ast am grünenden Baume der Weltgeschichte.
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