
seligen Berglandes. Von dem Augenblick an, wo eine europäische Macht politisch und w ir t schaftlich
in diesem Lande Fuss fassen würde, wäre es zum Dahinsiechen verurteilt. Darum
suchen auch die Bewohner sich hinter dem himmelragenden Bergwalle hartnäckig zu verteidigen,
darum ist das Leben jener Völker bisher trotz aller Bemühungen europäischer Forscher ein nahezu
unerschlossenes Geheimniss geblieben.
Wir sind in der Station Haurah, einem Vororte der Hauptstadt Indiens. Langsam fährt
der Zug in die Bahnhofshalle, wo nicht allein das europäische und eurasische (Halfcast-) Element,
sondern auch die Eingeborenen zum Empfange zahlreich vertreten sind. Der Vicekönig von
Indien, Marquis of Lansdowne, und der Gouverneur von Bengalen, Sir Charles Elliot, begrüssen die
hohen Reisenden.
Im Schritt fahren wir auf einer langen Pontonbrücke über den Hugli, einen Arm des
Ganges, und gelangen in das eigentche Kalkutta. Es ist ein langer Zug: voran eine Abteilung
der viceköniglichen Leibgarde,. im ersten Wagen der russische Thronerbe mit dem Statthalter der
Kaiserin von Indien, im zweiten Prinz Georg von Griechenland mit Sir Charles Elliot; das beiderseitige
Gefolge reiht sich an, den Schluss bilden die auf dem Bahnhof aufgestellten Ehrenwachen
und eine Abteilung Artillerie mit Geschützen. Die Zuschauermenge ist noch grösser als beim
Einzug in Kairo. Sie besteht grösstenteils aus Bengalen, die, reich begabt und auch nach unsern
Begriffen ziemlich entwickelt, die Politik mit Interesse verfolgen. Sie sind offenbar sehr gespannt.
Der mächtige Strom mit dem Walde von Masten, die Fülle imposanter Gebäude, die
Kalkutta längst den Namen’ „Stadt der Paläste“ eingebracht haben, vereinigen sich zu einem ausserordentlich
anziehenden Gemälde. Trotz der in der Residenz zusammenlaufenden vier Eisenbahnlinien
liegt das Schwergewicht für den Waarentransport doch auf dem Verkehr zu Wässer. Die
Ein- und Ausfuhr erreicht jährlich einen Werth von über 2 Milliarden Mark; darunter beläuft
sich die Ausfuhr nach England allein auf etwa 350 Millionen, die englische Einfuhr erreicht etwa
400 Millionen. Die Ein- und Ausfuhr umfasst hauptsächlich: Vieh, Kohle, Baumwolle, Früchte,
Reis, Guttapercha, Harze, Häute, Bastmatten, Oele, Metalle, Opium, Schwefel, Seide, Gewürze,
Theesorten (indische und chinesische), Zucker, Taback, Wolle, Holz, Tuche, Farbstoffe, Salz und
Maschinen aller Art. Kalkutta steht nicht allein mit England und Europa überhaupt in enger
Verbindung, auch mit Ostasien, Amerika, Südafrika und Australien unterhält es regen Verkehr.
Zu letzterm sind die Beziehungen infolge der sich gegenseitig- glücklich ergänzenden Handelsinteressen
und der Nachbarschaft besonders innig. Es landen in Kalkutta jährlich über tausend
grosse Dampfer und viermastige Segelschiffe. Besonders hervorzuheben ist die bestens bekannte
„Peninsular and Oriental“ Compagnie, bekannter als „P. and O.“ -Linie. Plumpe indische Boote
(dhingy) mit halbem Verdeck huschen auf dem Strome herum. Jeder Bauer in Östbengalen
trachtet nach dem Besitze eines eigenen Schiffleins, wie in ändern Ländern nach einem eigenen
Fuhrwerk. Wir fahren über- die Brücke, wol die grösste Pontonbrücke der Welt Sie besteht
seit 1873 und kostete über 4 Millionen Mark. Sie ist über einen halben Kilometer lang und
wol 20 Meter breit. In der Mitte ist ein geräumiger Weg für Equipagen, an den beiden
Seiten ziehen sich, durch Gitter abgesperrt, Pfade für FuSSgänger hin. Zwischen der Stadt und
der Vorstadt, wo bedeutende Waarenlager und die Docks sich befinden, herrscht ein ununterbrochener
Verkehr, der nur zu bestimmten Stunden in der Woche eingestellt wird, damit die
grossen Schiffe zwischen den Aufzugpontoris hindurchfahren können.
Einige Indienreisende, die unser Petersburg kannten, verglichen es nach seinem Aeussern
gern mit Kalkutta. Selbst das Schicksal beider Residenzen stimmt zum Theil überein. Ihre
Gründung fällt beinahe in dieselbe Zeit, als ein erbitterter Kampf zwischen europäischen Völkern
um die Weltherrschaft im Osten wüthete. Beide erhoben sich gleicherweise aus einem miasmatischen
Sumpfboden, an der Mündung zweier historisch bedeutungsvoller Ströme, entwickelten
sich in denselben Zeiträumen, wurden die Pflegestätten einer gewissen Mischbildüng und einer
freiem Denkungsart im nationalen Sinne des Wortes.
Beide halborientalisch gestalteten Hauptstädte haben ihresgleichen in politischer Hinsicht
nur an Peking. Wie dieses Centrum die chinesische und theilweise überhaupt die ostasiatische
Welt ihre eigenen Bahnen wandeln lässt, so theilen sie Asien in zwei charakteristische Lager,
in welchen der geistig-moralische Zwiespalt zwischen der Cultur des Abendlandes und den streng
conservativen Grundlagen des Orients sich immer mehr offenbart und noch stärker offenbaren muss.
Kalkutta, das Tausende von Vertretern der zur englischen Bildung strebenden brahmänischen
und muhammedanisehen Jugend beherbergt; ist heutzutage gewissermassen eine grelle Personification
der politisch noch träumenden gigantischen Halbinsel, — ebenso wie die europäisch organisirte
„Hauptstadt des Zaren Peter“ voll solcher ist, die bei Europa stets lernen wollten und wollen, aber
immer bewusster ihre slavisch-turariische Natur zur Erscheinung bringen, eine Weit des Ostens,
die noch in scharfem, stark chaotischem Gegensatz zu den Staaten abendländischen Charakters
steht, die social völlig verschieden gestaltet sind und einer ganz ändern Civilisation entstammen.
In dem Maasse, wie die Völker Westeuropas sich durch Idar ausgeprägte Vergangenheit
auszeichnen, ist Russland, mit dem ihm organisch eng verbundenen Orient, ein Reich der
Zukunft. Der fast unsichtbare Kampf zwischen Asien und Europa spielt sich gewissermassen
in zwei Hauptcentren der Welt ab: in St.-Petersburg und Kalkutta. In diesen Hauptstädten
entscheidet sieh das Wohl und Schicksal von vierhundert Millionen Menschen und eigentlich
sogar von ganz Asien, da Peking bisjetzt nur geringen Antheil an der Lösung der grossen
Weltfrage nimmt An den^ fern der Newa wie an der Mündung deä Ganges hat man viel
Nützliches und Ideales der abendländischen Cultur abgelauscht, doch fühlt .man da wie hier eine
gewisse urwüchsige Eigenart, die sich den germanisch-romanischen Ländern gegenüber, die
unter einer zu viel fordernden Civilisation leiden, immer schärfer offenbart. ' Für uns, für den in
seinem Innersten noch völlig unaufgeschlossenen rüssischen Orient, für Asien bildet die theo-
kratische Grundlage und die” absolute Richtschnur des. Lebens' die Religion, der lichte Glaube an
das Unerforschliche, die Unterwürfigkeit unter die eine gottgewollte Obrigkeit, das echt morgen-
ländische . Streben nach sittlicher Grossthat und steter Herzenserneuerung.. So oft sich in den
Wirren des Jahrhunderts der mehr materialistisch, gestimmte Mensch des Westens mit der naiven
Weltanschauung von 1000 Millionen Orientalen berührt, wird der Zwiespalt zwischen ihm und
uns sozusagen unvermeidlich und von der Natur der historischen und psychologischen Verhältnisse
selbst vorgezeichnet.
Welchen Reiz bietet dieses prosaische Kalkutta bei einem Blick auf seine menschenerfiüllten
Strassen! Hier blenden das Auge keine grellen Farben der Gewänder, keine barbarisch. kühnen
Züge, an denen das Dekhan, Gudscherat und das Pendschab so reich'sind. Geräuschvolle Volksmengen,
unordentliche Auftritte, denen wir in mehrern Städten Hindostans begegnet waren,
fehlen hier gänzlich. Dagegen gleichen die ganz nach römischer Art in ihre Toga sich hüllenden
Bengalen aus der Ferne echt classischen Statuen; das musikalisch tönende Flüstern der Volksmenge
und das als Willkommen erschallende Händeklatschen gemahnen fast an antike Zuschauer, die
frohen Blickes an der Lebenswahrheit der von ihnen vergötterten Schaubühne hangen: weisse,
buntgesäumte Gewänder unter türkisblauem strahlenden Himmel — was mag wol eine bessere
Harmonie mit der goldgelben oder ölivenbraunen Gesichtsfarbe der Mehrzahl der Eingeborenen
bilden! Jene die so glücklich sind, eine goldgelbe Gesichtsfarbe zu besitzen, gelten für schön:
selbst die Göttinnen der Liebe und des Familienlebens werden immer „goldfarben“ abgebildet